Türkische Palastrevolte
Was genau geht in der Türkei vor? 104 pensionierte Admirale haben in einer in der Nacht auf Sonntag veröffentlichten Erklärung die Regierung in Ankara eindringlich davor gewarnt, das Montreux-Abkommen von 1936 «zum Gegenstand einer öffentlichen Kontroverse zu machen», geschweige denn zu wagen, dieses auf welche Art auch immer zu ändern. Der Vertrag von Montreux schütze die «türkischen Interessen am besten», unterstrichen sie, er sei nach dem Friedensvertrag von Lausanne von 1923 (der faktischen Geburtsurkunde der heutigen Türkei) gar «unser grösster diplomatischer Sieg». Die Admirale a. D. schienen nebenbei die Gelegenheit zu nützen, um klarzustellen, dass die türkische Armee und die Seestreitkräfte sich keineswegs von dem von Atatürk gezeichneten modernen, (westlich-orientierten) Weg entfernt hätten. Damit kritisierten sie indirekt die von der Regierung geförderte «Islamisierung der Streitkräfte».
Generalität gegen Regierung?
Die Generalität in der Türkei war sich jahrzehntelang gewohnt, ihre Panzer auf die Strassen rollen zu lassen und Politiker, die sie als islamistisch betrachtete, aus der Macht zu putschen. Das aber ist lange her. Nach der Jahrtausendwende gelang es der Regierung des Islamisten Erdoğan, die Armee zu entmachten und sie zu einem ihr ergebenen Organ zu verwandeln. Dennoch holten hohe Regierungskader gleich nach Veröffentlichung der Erklärung zum Gegenschlag aus: Vizepräsident Fuat Oktay nannte die Initianten «Liebhaber von Militärputschen», die mit dem «Willen der Nation und dem aufrechten Recep Tayyip Erdoğan nicht umgehen können». Der mächtige Verteidigungsminister Hulusi Akar verurteilte den Versuch, die «Moral und Motivation der türkischen Streitkräfte negativ zu beeinflussen». Präsident Erdogan bestätigte, die «inakzeptable» Erklärung impliziere unmissverständlich einen Putsch. Am frühen Montagvormittag liess die Staatsanwaltschaft 10 mutmassliche Initianten der Bewegung in Gewahrsam nehmen und verordnete für vier weitere aufgrund ihres hohen Alters den Hausarrest. Die 104 Ex-Admirale werden beschuldigt, «mit Gewalt und Zwang den Sturz der verfassungsmässigen Ordnung» des Landes angestrebt zu haben. Die Presse meldet inzwischen, dass ihnen bereits sämtliche Rentenansprüche gestrichen worden seien.
Was genau geht also hinter den Kulissen in Ankara vor?
Die jüngste Debatte über eine mögliche Änderung des Montreux-Vertrags wurde ausgerechnet vom Mustafa Şentop, dem Sprecher der türkischen Nationalversammlung und engen Vertrauten des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angestossen. Der Präsident der Türkei habe die Autorität, sich vom Montreux-Abkommen zurückzuziehen, wann immer er wolle, erklärte er während eines Interviews mit dem TV-Kanal «HaberTurk». Handelte es sich um einen verbalen Ausrutscher oder doch um eine Absichtserklärung?
Freie Fahrt durch die Meerengen in Frage gestellt?
Dieses 1936 in Montreux unterzeichnete, internationale Schifffahrts-abkommen erlaubt der Türkei seine beiden Meerengen, namentlich den Bosporus und die Dardanellen, militärisch zu kontrollieren. Der Bosporus, der sich als enge Wasserstrasse durch die türkische Metropole Istanbul schlängelt und Europa von Asien teilt, sowie die weiter südlich gelegenen Dardanellen sind für das Land sicherheitsmässig von besonderem Wert. Andererseits sind diese Engen die einzigen Wasserverbindungen zwischen dem Schwarzen Meer mit dem Mittelmeer. Deshalb garantiert das Montreux-Abkommen seit 1936 freie Durchfahrt durch die Engen für die zivile Schifffahrt in Friedenszeiten. Freie Durchfahrt geniessen dem Abkommen zufolge ferner Kriegsschiffe von Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres.
Der Montreux-Vertrag steht nicht zum ersten Mal zur öffentlichen Debatte in der Türkei. Seitdem Präsident Erdoğan im Rahmen seiner pharaonischen Projekte auch den Bau eines 45 Kilometer langen «Kanal Istanbul» plant, der das Schwarze Meer mit dem Mittelmeer westlich des Bosporus verbinden sollte, wird die Konvention immer wieder mal von Politikern und in der Folge auch den Medien in Frage gestellt. Aus ersichtlichen Gründen: Der Bau dieses von Umweltschützern hoch umstrittenen Projekts macht nur dann Sinn, wenn die Schifffahrt, die heute durch den Bosporus abgewickelt wird, vollständig auf diesen neuen Kanal umgeleitet werden kann.
Der «Kanal Istanbul» ist eines von Erdoğans sogenannten «verrückten Projekten»: Abgesehen von den gravierenden Folgen für die Umwelt, würde er die astronomische Summe von 14 Milliarden Euro kosten, über die die türkische, seit Monaten von Krisen erschütterte Wirtschaft nicht verfügt. Sollte das Land aus dem Montreux-Vertrag aussteigen, wie der Sprecher der türkischen Nationalversammlung und die Erklärung der Ex-Admirale andeuten liessen, würde dies unter anderem den Erdöltransport aus dem Schwarzen Meer an den internationalen Märkten lahmlegen. Der neuliche Zwischenfall im Suezkanal zeigte aber in aller Deutlichkeit, welche katastrophalen Folgen eine solche Blockade für die internationale Wirtschaft haben könnte. Jeder Akt, der die Bewegungsfreiheit der russischen Kriegsmarine gefährdet, würde zugleich auch die türkisch-russischen Beziehungen belasten. Das kann die Regierung in Ankara momentan wohl kaum anstreben. Was also geht genau hinter den Kulissen im Palast Ankaras vor?
Abrechnungen nach einer Palastrevolte
Türkische Beobachter sowie die türkische Opposition mutmassen hinter dem Streit um den Montreux-Vertrag eine Spaltung zwischen den diversen Flügeln der Regierung, eine Art Palastrevolte. Die Vorsitzende der Rechts-der-Mitte-Partei (Iyi) Meral Aksener warnt vor einer neuen «Säuberungswelle»: Die Inhaftierung der Ex-Admirale ebne den Weg, damit jeder, der anders denke als die Regierung, festgenommen werden könne, sagte sie der Presse. Von einem bewussten Versuch der Regierung, die Gesellschaft erneut zu polarisieren, spricht der ehemalige Finanzminister Ali Babacan: «Jeder, der sich etwa kritisch zum Projekt Kanal Istanbul äussert, wird beschuldigt, auf der Seite der Putsch-Generäle zu stehen». Der in diesen Fragen bewanderte Politikwissenschaftler Gökhan Bacik macht ein deutliches Abbröckeln des Regierungsbündnisses aus: Bestimmte Elemente aus den kemalistisch-eurasiatischen Fraktionen hätten durch ihren Brief ihre «Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Aufteilung der Macht innerhalb des Staates» signalisiert, sagt er der internet-Plattform «ahval».
Tatsache ist, dass es nach dem gescheiterten Putsch von 2016 zu einem Zweckbündnis gekommen war zwischen den Islamisten Erdoğans, den Rechtsnationalisten unter Devlet Bahceli, kemalistischen Kreisen der Armee und den Eurasiaten unter der Führung des extremen Linksnationalisten Doğu Perinçeks. Diese ideologisch so unterschiedlichen Flügel sind sich mittlerweile in wichtigen Fragen nicht nur nicht einig, sondern untergraben sich gegenseitig, wo es auch nur geht. Der Hof von Erdogans aus 1100 Zimmern bestehenden Palastes gleiche immer mehr dem Palast einer vergangenen Epoche, kommentierte neulich die griechische Zeitung «Kathimerini». «Der türkische Präsident ist nicht mehr derjenige, der alle Entscheidungen trifft. Es gibt Berater, Verwandte und Höflinge, die sich um die Vorherrschaft streiten, angehende Nachfolger und den neuen ‹tiefen Staat›, der ebenfalls eine Rolle in der Entwicklung beansprucht». Für Nachbarländer sei es deshalb besonders schwer auszumachen, wer in Ankara gerade wie viel Macht ausübe.
Die Festnahme Cem Gürdeniz letzten Sonntag dürfe für diesen hinter den Kulissen bitter ausgetragenen Machtkampf bezeichnend sein. Ehemals bekannt als treuer Kemalist und als solcher unerbittlicher Bekämpfer der Islamisten, hat dieser Admiral nach 2016 im Dienste der Islamisten die Doktrin der sogenannten Blauen Heimat entwickelt. Diese Doktrin, die Erdoğan zur offiziellen Staatspolitik erhoben hat, erhebt Anspruch auf ausgedehnte Hoheitsgewässer in der Ägäis, dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer und hat letztes Jahr für enorme Spannungen zwischen der Türkei auf der einen Seite und Griechenland, Zypern, Israel und Ägypten auf der anderen gesorgt.
Am Dienstag wurde die Debatte über den Montreux-Vertrag vom Präsidenten fortgesetzt: «Wir werden uns weiterhin zu dieser Konvention bekennen, bis wir die Gelegenheit für eine bessere finden», zitierte ihn die staatliche Agentur Anadolu. Wie Erdoğan ausführte, werde der «Kanal Istanbul» eine Alternative außerhalb der Beschränkungen des Montreux-Vertrages schaffen: «Wir streben nach einem Abkommen, das komplett der Souveränität der Türkei unterliegt». Davon zeigte sich allerdings sein engster Alliierter in der Regierung, der Ultra-Rechte Devlet Bahceli, nicht sonderlich begeistert: der Respekt der Montreux-Konvention sei «unsere rote Linie, die Frieden und Stabilität im Schwarzen Meer garantiert», erklärte er der Parlamentsfraktion seiner Partei, faktisch im Einklang mit den 104 pensionierten Admiralen. Und als hätte Präsident Erdoğan seinen Wunsch nach einer besseren Alternative nicht gerade der Öffentlichkeit mitgeteilt, sagte Devlet Bahceli ohne Umschweife: In der Türkei gebe es schliesslich «niemanden, der die Montreux-Konvention zur Diskussion stellt oder zu ihrer Abschaffung aufruft».