Moskau initiiert Waffenruhe in Bergkarabach
Über fünf tausende Menschen sind seit dem Kriegsausbruch in Bergkarabach am 27. September bei schweren Gefechten ums Leben gekommen und rund hunderttausend Zivilisten in die Flucht getrieben – nun sollen die Waffen seit dem 10. November 00:00 russischer Zeit schweigen. Darauf haben sich Aserbaidschan, Armenien und Russland in der Nacht auf Dienstag geeinigt. Das aus neun Punkten bestehende Abkommen ermöglicht den Konfliktparteien ihre Kriegsgefangenen auszutauschen und ihre unzähligen, noch in Schützengräben oder auf offenem Feld liegenden Toten zu bergen. Das Abkommen sieht ferner den Abzug aller armenischen Truppen aus dem aserbaidschanischen Aserbaidschan vor. Sie sollen in Bergkarabach von russischen Friedenstruppen ersetzt werden. Die Waffenruhe hat eine Dauer von fünf Jahren.
Moskau und Baku spürbar zufrieden
Russlands Präsident Wladimir Putin war nach der Unterzeichnung sichtlich zufrieden: Er hoffe, dass dieses Abkommen zur Beendigung der Kriegshandlungen auch «die notwendigen Bedingungen für eine dauerhafte und umfassende Lösung der Krise um Bergkarabach schaffe», erklärte er gegenüber den Medien. Und kündigte gleich an, dass um die 2000 russische Friedenssoldaten bereits auf dem Weg nach Bergkarabach seien. Der russische Präsident hat jeden Grund, zufrieden zu sein: Mit diesem Abkommen konnte er nämlich die Initiative in diesem Konflikt an sich reissen, die Türkei vom Abkommen auslassen und für die nächsten fünf Jahre jede Beteiligung des Westens bei der Suche nach einer Lösung obsolet machen.
Die Waffenruhe hat Aserbaidschan in Siegestaumel versetzt. Nach der Unterzeichnung zogen die Bürger in der Hauptstadt Baku sowie anderen Städten zu Hunderten auf die Strasse und feierten laut hupend und jubelnd bis in die Morgenstunden. Einen «historischen Sieg» für seine Nation nannte der Präsident Aserbaidschans, Ilham Aliyew, das Abkommen. Im Lauf des ersten Karabachkriegs 1991-1994 waren über eine halbe Million Aserbaidschaner aus dem Gebiet der sieben rund um Bergkarabach liegenden Provinzen vertrieben worden. Viele von ihnen hausen auch dreissig Jahre danach noch in elenden Flüchtlingslagern und manche träumen gar von einer Rückkehr in die «Heimat». Im aserbaidschanischen Fernsehen wurden immer wieder Bilder ausgestrahlt, wie Putin und «ihr»
Präsident die Dokumente unterzeichneten und damit die Verwirklichung ihres Traums ermöglichten. Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan war bei der Unterzeichnungszeremonie nicht anwesend: «Die eiserne Faust Aserbaidschans» hätte Paschinjan gezwungen, das Dokument zu unterzeichnen, dies habe er allerdings wie ein Feigling im Geheimen getan, liess Alijew selbstgefällig verlauten. Der Potentat Alijew verachtet seinen armenischen Gegenspieler und dessen demokratisches Experiment tief. In der Nacht auf Dienstag machte er nicht einmal den Ansatz eines Versuchs, diese Verachtung gegenüber dem nach der Unterzeichnung des Dokuments augenscheinlich unterlegenen armenischen Gegner zu verbergen.
Was genau wurde unterzeichnet?
Armenien hat alle noch unter seiner Kontrolle stehenden, ehemaligen Provinzen Aserbaidschans, bis Ende Dezember kampflos abzutreten. Die Übergabe der Provinz Kelbatschar soll gemäss Artikel 6 bis zum 15. November und Latschin bis zum 1. Dezember abgeschlossen sein. Joseph Stalin hatte diese Provinzen Anfang der 1920er Jahre von Aserbaidschanern und Kurden besiedeln lassen, um das Territorium der Republik Armenien und das von Armeniern besiedelte Bergkarabachs mit einem Pfeil zu trennen. Nach dem ersten Karabachkrieg haben Tausende Armenier, die meisten von ihnen Vertriebene aus Aserbaidschan, hier eine neue Existenz aufgebaut. Die Frage, was nun mit ihnen passieren soll, bleibt vorerst unbeantwortet.
Die wichtige Verkehrsstrasse bei Latschin, die bisher das Überleben des vom Mutterland Armenien getrennten Bergkarabach garantiert hat, wird künftig von russischen Truppen überwacht. Der Verkehr in beide Richtungen soll allerdings ausgerechnet von Aserbaidschan garantiert werden. Des Weiteren haben die Armenier die südliche Provinz Aghdam (Artikel 2) spätestens bis Ende November zu übergeben und die Rückkehr der aserbaidschanischen Binnenflüchtlinge unter Aufsicht der UN-Flüchtlingskommission zu ermöglichen.
Öffnung eines unverhofften Korridors für die Türkei
Siegesstimmung auch in der Türkei. Der türkische Vize-Präsident Fuat Oktay liess die Botschaft «Karabach ist nun Aserbaidschan” in den sozialen Medien breit streuen. Und: «Eure Freude, unsere Freude, soll ewig sein, Aserbaidschan”. In Wirklichkeit hat erst das forsche Auftreten der Türkei das Kräftegleichgewicht im Südkaukasus gefährlich kippen lassen – zugunsten Aserbaidschans. Türkische Offiziere, türkische Drohnen und dschihadistische Kämpfer aus Syrien im Sold des türkischen Präsidenten zogen sechs Wochen lang gemeinsam an die Front, um die „territoriale Integrität“ Aserbaidschans wiederherzustellen. Die Türkei wurde dafür mit einem unverhofften „Korridor“ durch das armenische Territorium belohnt. Artikel 9 der Vereinbarung schreibt Armenien vor, den «freien Transport von Bürgern, Fahrzeugen und Waren zwischen Aserbaidschan und seiner westlichen Exklave Nachitschewan über den armenischen Korridor Zangezur zu ermöglichen. Das bedeutet für Armenien faktisch, dass die Türkei, welche eine gemeinsame Grenze mit Nachitschewan teilt, damit auch freien Zugang zu den türkisch-sprachigen Republiken Zentralasiens erhält.
Die geostrategische Bedeutung dieses «Korridors» kann nicht genug unterstrichen werden: Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte die Türkei von einem freien Zugang auf dem Landesweg zu den legendär reichen, ihr kulturell verwandten zentralasiatischen Republiken geträumt. Der schlanke armenische Korridor Zangezur, der zwischen Nachitschewan und Aserbaidschan liegt, stellte sich allerdings allen Träumen Ankaras nach mehr Einfluss in diesem Gebiet quer; die Türkei musste ihren Handel mit Zentralasien über Russland oder den Iran abwickeln. Artikel 9 verlangt nun von Armenien, den freien Warenverkehr zwischen Nachitschewan und der Türkei und Aserbaidschan über den eigenen Boden zu garantieren. Unklar ist, warum Moskau Ankara diesen so wichtigen Korridor ermöglicht hat.
Totalkapitulation
Das von Moskau initiierte Abkommen schlug in der armenischen Gesellschaft wie eine Bombe ein. Armenier, unabhängig ihrer ideologischen Ausrichtung, betrachten diese Vereinbarung als eine demütigende Totalkapitulation ihres Landes. «Der Text ist für mich persönlich und unser Volk unbeschreiblich schmerzhaft», teilte der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan auf Facebook mit. Er habe sich aber nach reiflicher Überlegung und Analyse der Lage für eine Unterzeichnung entschieden. Hatte er sich hinsichtlich der Ziele Bakus verschätzt, als er nach Kriegsausbruch sein Volk beschwor, «in diesem Blitzkrieg der Türken durchzuhalten» und weiter zu kämpfen? Mittlerweile gibt es kaum eine Familie im (noch) armenisch besiedelten Bergkarabach, aber auch im Mutterland Armenien, die nicht um einen oder mehrere Kriegsopfer trauert. Wurde Paschinjan von Moskau zur Kapitulation gezwungen oder doch, weil die armenische Front vor der Burgstadt Schusa in Bergkarabach zusammenbrach? Der allgemein respektierte armenische Präsident Armen Sarkissian gab kund, dass er weder von seinem russischen, noch vom armenischen Regierungschef über dieses so schwerwiegende Abkommen informiert worden war. Er habe von seiner Unterzeichnung erst aus den Medien erfahren, fügte er hinzu. Er war sichtlich verstört.
Unmittelbar nach der Unterzeichnung kam es in Armenien zu Ausschreitungen. Ein Mob besetzte in der Nacht zum Dienstag das Parlamentsgebäude und zerschlug in blinder Wut Möbel, Türen und Fenster, beschimpfte den Regierungschef als Verräter und schlug den Präsidenten des Parlaments spitalreif. Allmählich formiert sich ein Lager um die alte konservative Putin-treue Politikergarde, die dem Regierungschef vorwerfen, mit seiner angeblich «verantwortungslosen, pro-westlichen Politik» die Wut Moskaus heraufbeschwört und damit die nationale Erniedrigung mitverursacht zu haben. Dieses Lager fordert den Rücktritt Paschinjans «hier und jetzt».
Vom «offensichtlichen Verrat» spricht auch das regierungsnahe Lager, meint aber in erster Linie einen Verrat Moskaus. Als Beweis gilt ihm die Tatsache, dass Russland dem Gemetzel in Bergkarabach sechs Wochen lang tatenlos zugesehen hatte, ohne seinem strategischen Partner Armenien auch nur symbolisch beizustehen. Das am 10. November unterzeichnete Abkommen empfindet dieses Lager um «Nikol» in erster Linie als eine Strafe dafür, dass dieser Politiker mit seiner sogenannten «samtenen Revolution» 2018 sein Volk für einen kurzen Moment dazu verführte, von einer tiefgreifenden Demokratisierung im fernen Kaukasus, von weniger Korruption, vom Respekt der Menschenrechte und einem Rechtsstaat zu träumen. Sie sehen darin auch die Statuierung eines Exempels durch Moskau, um Ländern wie Belarus zu signalisieren, dass ihnen Ähnliches droht, wenn sie, wie Armenien, mehr Demokratie und Eigenständigkeit wagen. Wird Nikol dieses Abkommen überleben? Unklar. Die Angst vor bevorstehenden grossen Unruhen geht schon um. Das Abkommen hat Armenien in Wirklichkeit in eine tiefe existenzielle Krise gestürzt. Deren Folgen sind vorerst nicht absehbar.