Moskau vermittelt Waffenruhe im Berg-Karabach-Konflikt
Die Waffenruhe soll bereits heute Mittag beginnen und Aserbaidschan und Armenien ermöglichen, ihre Gefangenen und die Körper ihrer Toten auszutauschen. Unmittelbar danach sollen «substanzielle Gespräche für eine Beilegung des Konflikts» unter Führung der sogenannten Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beginnen. Wäre damit auch der erste Schritt zu Friedensverhandlungen getan?
Seit zwei Wochen hat der neue Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach getobt und immer mehr Zivilisten und zivile Einrichtungen in Mitleidenschaft gezogen. Berg-Karabachs Hauptstadt Stepanakert und das wunderschöne, hoch auf einem Hügel gelegene, ehemals multikulturelle Städtchen Schuscha sind seit Tagen die Zielscheibe von Aserbaidschans Raketen-, Artillerie- und Luftangriffen. Seit Tagen meldet auch Aserbaidschan armenische Raketenangriffe auf seine zweitgrösste Stadt Gendsche. Die mittel- oder langfristigen Folgen auf die Zivilbevölkerung werden dabei bewusst ausgeklammert. Das IKRK umschrieb in einer öffentlichen Erklärung am 4. Oktober die Lage in der südkaukasischen Region so: «Hunderte von Häusern und wichtige, zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen sind durch schweres Artilleriefeuer und durch Angriffe der Luftwaffe inklusive Raketen zerstört oder beschädigt worden. Ebenso zerstört wurden Strassen, Elektrizitäts- und Gaswerke sowie Kommunikationsnetze. Familien sind unterwegs auf der Suche nach irgend einem sicheren Unterschlupf, während sich andere zurückgezogen haben in ungeheizte Kellerräume, wo sie sich vor Gewalt geschützt wähnen.»
Lokale Behörden schätzen, dass etwa die Hälfte der zivilen Bevölkerung, vor allem Frauen und Kinder, mittlerweile auf der Flucht ist. Mehrere hundert Menschen sind ums Leben gekommen. Allein die armenische Seite hat über 320 tote Soldaten zu beklagen. Wie viele Opfer es auf der Seite Aserbaidschans gibt, ist noch unbekannt. «Berg-Karabach ist wieder auf Punkt Null zurückversetzt», sagt die junge Unternehmerin Aelita Chobanjan im Gespräch. «Die Zerstörung seiner Infrastruktur ist beinah vollkommen.» Und sie bestätigt, dass Abertausende von verzweifelten Flüchtlingen täglich in Jerewan eintreffen. Der armenische Premier Nikol Paschinjan nannte diesen Krieg «einen für Armenier existentiellen Krieg», gar eine «Fortsetzung des Genozids». Die Jungtürken hatten im Schatten des Ersten Weltkriegs zwischen 1915-1917 über eine Million Armenier des Osmanischen Reichs ermorden lassen. Wer überlebte, wurde vertrieben. Das Trauma des Genozids, den die Türkei nie als solchen anerkannt hat, lastet auf der armenischen Seele und hat sich wie eine Urangst im armenischen DNA verankert. Dass sich die Türkei in diesem Krieg unumwunden an die Seite Aserbaidschans gestellt hat, hat in Armenien das Trauma des Genozids erneut wach werden lassen. Ältere Generationen litten an Dauer-Stresssituationen, sagt Aelita Chobanjan.
Ruf in der Wüste?
Die Aussenminister der USA, Russlands und Frankreichs hatten mit einem Appell die Kriegsparteien aufgerufen, ihre Kampfhandlungen unmittelbar einzustellen. Zuvor hatten sie mit einem Appell die Kriegsparteien aufgerufen, ihre Kampfhandlungen unmittelbar einzustellen. Die drei Länder «verurteilen aufs Schärfste die beispiellose und gefährliche Eskalation in- und ausserhalb Berg-Karabachs», hiess es in einer in Washington veröffentlichten gemeinsamen Erklärung. Ihr Appell für einen sofortigen Waffenstillstand verhallte allerdings. Aserbaidschan klagt die drei Länder an, in Bezug auf den Karabach-Konflikt versagt zu haben. Die USA, Russland und Frankreich bilden den Vorsitz der sogenannten Minsker Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die 1992 gebildet worden war, um den Konflikt um Berg-Karabach zu lösen. Dass der neue Krieg ausgebrochen ist, zeigt in tragischer Weise, wie alle drei Länder die Sprengkraft dieses Konflikts viele lange Jahre zumindest klar unterschätzt haben.
Der Konflikt schien auch jetzt für sie keine Priorität zu haben. Die amerikanische Regierung kümmere sich nur um die nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA – und falle als effektiver Unterhändler vorerst weg, sagte der Kaukasus-Experte Thomas de Waal im Gespräch mit der internet-Plattform «ahval». Frankreich geniesse zwar in Armenien grosses Ansehen und setze sich als «die grosse Ausnahme» für einen raschen Waffenstillstand ein. In Aserbaidschan habe Paris aber keinerlei Gewicht, um irgend eine Veränderung der Lage zu bewirken. Und Russland bezeichnete der Experte als das «grosse Rätsel»: Obwohl Moskau den Kaukasus traditionell zu seinem «nahen Ausland», also zu seiner ausschliesslichen Einflusszone zähle und mit Armenien in einer sicherheitsstrategischen Beziehung stehe, habe es bislang versucht, die «gleiche Distanz» zu beiden Kriegsparteien zu wahren. Russland würde seine Verpflichtungen in Armenien wahrnehmen, sollte auch dieses Land angegriffen werden, beteuerte am Mittwoch Wladimir Putin – um im gleichen Atemzug auf Distanz zu gehen: Der Krieg finde aber nicht auf armenischem Territorium statt. Berg-Karabach gehört völkerrechtlich dem Territorium Aserbaidschans, wird aber seit 1994 von Armenien kontrolliert. Bewohnt wird das Gebiet ausschliesslich von Armeniern. Der Kreml hat nun immerhin für nächsten Montag ein Treffen mit den Aussenministern aus Armenien und Aserbaidschan in Moskau angekündigt.
Totale Kapitulation Armeniens gefordert
Zehn Tage nach Kriegsbeginn hatte der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu Aserbaidschans Hauptstadt Baku besucht. Aus Baku rief er die Weltgemeinschaft auf, «diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen – und dies ist auf Seite Azerbaidschans», sagte er während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew. Schliesslich habe Armenien das Territorium Aserbaidschans besetzt. Die Türkei werde Aserbaidschan weiterhin mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, bis «unser Bruderstaat» seine territoriale Integrität zurückerlange, fügte Cavusoglu hinzu. Alijew ging kurz auf den Appell der Minsker Gruppe nach einem sofortigen Waffenstillstand ein. «Wenn überhaupt Gespräche zu einem Waffenstillstand, dann nur, um den genauen Zeitplan des bedingungslosen Abzugs der Armenier zu diskutieren», konkretisierte Ilham Alijew. Beide Politiker forderten also nichts weniger als die totale Kapitulation Armeniens.
Aus einer gewissen Distanz gesehen mutet das Ganze wie die Wiederholung eines schlecht gespielten Films an: Vor genau einem Jahr hatte die Türkei zum Krieg in Nordsyrien geblasen und liess ihre Truppen in dem hauptsächlich von Kurden besiedelten Gebiet einmarschieren. Auch da unendliches Leid: Dörfer, Städte und die Lebensgrundlage von Abertausenden wurden zerstört, rund 300‘000 Menschen als Flüchtlinge in die Wüste vertrieben. Die Schmutzarbeit vor Ort erledigten die «Söldner» des türkischen Präsidenten Erdogan: Mord, Vergewaltigungen, Entführungen und Plünderungen ohne Ende, für die niemand bestraft wurde. Zurück blieb ein destabilisiertes Gebiet und traumatisierte Menschen ohne jegliche Perspektive. Die Türkei schaffe auf dem Kaukasus ein zweites Syrien, warnte der armenische Präsident Armen Sarkissjan, der in seinem Land als gemässigte Stimme respektiert wird. Er rief die Weltgemeinschaft zu raschem Handeln auf.
Ankaras strategischer Fehler?
Die lokale und internationale Presse sowie Politiker melden ab dem 23. September regelmässig, wie Ankara Söldner aus Syrien über die Türkei in die Front nach Berg-Karabach verlege; das sind genau vier ganze Tage, bevor der Krieg angefangen hatte. Während Ankara und Baku anfänglich einen Einsatz von Söldnern entrüstet dementiert hatten, zucken ihre Politiker mittlerweile mit der Schulter. Es sterben bereits zu viele Söldner an der Front, um sie noch verstecken zu können.
Das Politmagazin «Der Spiegel» nannte sie «Schattenkrieger». Die Söldner sind in der Regel arme Teufel, die oft in den Krieg ziehen, um mit ihrem Sold ihre Familien zuhause durchzubringen. Aber nicht nur: Laut Herfried Münkler, emeritierter Professor an der Berliner Humboldt-Universität, leben sie vom Krieg und für den Krieg. «Als Krieger zu agieren ist für sie Existenzgrundlage und Lebensform». Söldner werden freilich nicht nur von der Türkei eingesetzt: Der Einsatz von Söldnern machte erstmals im Irak-Krieg von sich reden. Die USA hatten sie damals massiv eingesetzt. Besonders berüchtigt waren dabei die Kämpfer des privaten militärischen Dienstleistungsunternehmens «Blackwater». Am Vorbild von «Blackwater» orientiert sich laut Herfried Münkler nun das russische Unternehmen von Jewgeni Prigoschin sowie das türkische militärische Dienstleistungsunternehmen SADAT. Während Prigoschin die sogenannten «Wagner»-Söldner organisiert, rekrutiert SADAT im Namen der türkischen Regierung die Schattenkrieger.
Die Söldner Erdogans stammen grösstenteils aus Syrien und sind oder waren Mitglieder der von der Türkei gegründeten und logistisch unterstützten «Syrischen Nationalarmee». Unter sie reihen sich aber auch viele Kämpfer der dschihadistischen Gruppierungen der «Sultan Murat Brigade» sowie «El Amshat Brigaden». Der Sold für ihren Einsatz im Berg-Karabach soll laut dem türkischen Journalisten Fehim Tastekin monatlich 1500-2000 $ betragen. Ihre Zahl wird auf 900 (so die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte) und 4000 (so die Regierung in Paris) geschätzt.
Irritierende Entscheidung
Der Einsatz sunnitischer Fanatiker auf dem Kaukasus könnte sich allerdings als strategischer Fehler der Türkei entpuppen. Er irritierte zunächst Moskau. Erdogan stelle damit «Putins Geduld auf die Probe», sagte Alexander Dynkin, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, der amerikanischen Presseagentur Bloomberg. Geographisch betrachtet ist der Weg aus Berg-Karabach über Aserbaidschan und Dagestan nach Tschetschenien nur kurz – und die Erinnerung an die jahrelangen, blutigen Kämpfe zwischen russischen Truppen und den sunnitischen Kämpfern Tschetscheniens in Russland ist noch sehr wach.
Der Einsatz sunnitischer Fanatiker dürfte auch in Aserbaidschan ein Unwohlgefühl ausgelöst haben. Der Verlust von Berg-Karabach und den sieben umliegenden Provinzen 1994 war für Aserbaidschan eine nationale Demütigung. Dass ihre Führung heute sunnitische Kämpfer aus Syrien beauftragt und bezahlt, um die «Heimatgebiete» zu befreien, empfinden viele als eine zweite Demütigung. Aserbaidschaner sprechen eine Sprache, die dem Türkischen der Türkei sehr nahe ist. Im Gegensatz zur Türkei Erdogans, die sich lediglich der sunnitischen Auslegung des Islam verpflichtet fühlt, ist die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in Aserbaidschan aber schiitisch.
Alarmiert durch die Präsenz von Dschihadisten direkt an seiner Grenze zeigte sich aber auch Iran. Der iranische Präsident Hassan Rouhani warnte eindringlich, der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien drohe zu einem «regionalen Konflikt» auszuwachsen, sollten die Kriegshandlungen nicht eingestellt werden.
Am Freitag wurden offensichtlich die roten Linien Moskaus überschritten. Präsident Wladimir Putin liess die Aussenminister der zwei Kriegsgegner auf Berg-Karabach zu einem Treffen in Moskau einladen. Details zur Waffenruhe sollen nächstens in einer Erklärung in Moskau veröffentlicht werden.