Aserbaidschan und Armenien am Rande des Abgrunds
Aserbaidschan und Armenien stehen seit letztem Sonntag wieder am Rande des Abgrunds. Trotz internationalen Mahnungen halten die heftigen Gefechte um die Kaukasusregion Berg-Karabach noch an. «Es gibt Dutzende tote Soldaten und Dutzende verletzte. Es gibt Dutzende tote und verletzte Zivilisten», erklärte in der Nacht auf Dienstag Arayik Harutunyan, der Präsident der de facto-Republik Berg-Karabach. Die Zahl der Todesopfer auf armenischer Seite soll inzwischen auf 58 gestiegen sein. Mindestens 100 weitere Personen, darunter viele Zivilisten, wurden verletzt. Unbekannt ist, wie viele Opfer die aserbaidschanische Seite zu beklagen hat.
Seit Ausbruch der Gefechte bezichtigen sich beide Konfliktparteien gegenseitig der «Provokation»: Friedliche Orte, inklusive die Hauptstadt von Berg-Karabach Stepanakert, würden mit Granaten beschossen, teilte am frühen Sonntagvormittag eine Sprecherin des armenischen Verteidigungsministeriums mit. Und: Die «gesamte Verantwortung dafür trägt allein die militärpolitische Führung Aserbaidschans». Gleich danach hat der armenische Präsident Nikol Paschinjan für Armenien und die Region Berg-Karabach den Kriegszustand ausgerufen und die Generalmobilmachung verordnet. «Wir stehen vor einem allumfassenden Krieg im Südkaukasus», sagte er in seiner Rede an die Nation. Dieser Krieg könnte für die gesamte Region des Südkaukasus und möglicherweise auch darüber hinaus «unabsehbare Folgen haben».
Ein Konflikt aus alten Tagen
Von einer «Provokation Armeniens» sprach hingegen Aserbaidschan. Sein Land habe erst auf diese Provokation mit einem Gegenangriff auf armenische Stellungen reagiert, sagte der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew in seiner Rede an die Nation. Er beteuerte, «unsere Soldaten sind als erste gefallen» und beschwor seine Bevölkerung: «Die Armee Aserbaidschans verteidigt heute die territoriale Integrität unseres Landes. Armenien ist eine Besatzungsmacht. Diese Besatzung muss enden und sie wird enden». Und: «Unsere Sache ist gerecht und deshalb werden wir siegen. Berg-Karabach ist Aserbaidschan.»
Worum geht es also? Die Historiker dies- und jenseits der gemeinsamen Grenze führen den Konflikt um dieses relativ kleine, zwischen Aserbaidschan und Armenien gelegene Territorium mit der faszinierenden Berglandschaft, den dichten Wäldern und dem Wasserreichtum auf die 1920er Jahre zurück. Obwohl die überwältigende Mehrheit seiner Bewohner seit alters her Armenier waren, schlug Josef Stalin, damals Kommissar für die Nationalitätenfrage der jungen Sowjetunion, ihr Gebiet der Sowjetrepublik Aserbaidschan zu. Die Bergbauern von Karabach stehen aber auch heute im Ruf, besonders hartnäckig, ja geradezu stur zu sein. Sechzig Jahre später nahmen sie das Versprechen Michael Gorbatschows, wonach «jede Nation ihren Weg selbst wählen und über ihr Schicksal, ihr Territorium und ihre Ressourcen selber bestimmen» könne, beim Wort. Im Jahr 1988 beschlossen ihre obersten Parteiorgane die Abspaltung von der «Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik» und die Vereinigung mit der «Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik». Dieser Beschluss war zwar friedlich, aber einseitig; er liess beide Sowjetrepubliken in einen verheerenden Krieg stürzen und hat nicht zuletzt auch den Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigt.
Der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach Anfang der 1990er Jahre kostete rund 30‘000 Menschen das Leben und hatte ethnische Säuberungen von einem geradezu makabren Ausmass zur Folge. Die ehemals blühende Minderheit der 400‘000 Armenier Aserbaidschans wurde durch blutige Pogrome und Massaker zur Flucht gezwungen. Aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden auch die 200‘000 Aserbaidschaner, die seit Generationen nur Armenien als Heimat kannten. Als der bilaterale Krieg 1992 seinen Höhepunkt erreichte, kamen nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation weitere 580‘000 aserbaidschanische Flüchtlinge noch hinzu – die aus den von den Armeniern nun besetzten Provinzen Aserbaidschans rund um Berg-Karabach vertrieben worden waren. Von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen, zog Anfang der 1990er Jahre in Transkaukasien fast eine Million Menschen, entrechtet, entwurzelt und ohne Perspektive, in die Randgebiete der Grossstädte, in vergessene Flüchtlingslager oder in vom Krieg zerstörte Geisterstädte.
Im Jahr 1994 vermittelte Moskau einen Waffenstillstand, der die militärische Lage vor Ort zementierte. Der Waffenstillstand verkam allmählich zu einem Zustand, der bezeichnet werden könnte als «weder Krieg noch Frieden». Denn Aserbaidschan möchte Berg-Karabach und die umliegenden Provinzen in sein Territorium so schnell wie möglich wiedereingliedern – und hat besonders in den letzten Jahren immer wieder versucht, mit Offensiven Teile Berg-Karabachs zurückzugewinnen. Der Kaukasus-Experte Thomas de Waal geht davon aus, dass auch die Gefechte von heute höchstwahrscheinlich auf Aserbaidschan zurückzuführen seien. Armenien habe kein Interesse daran, den Status Quo auf Berg-Karabach zu verändern, erzählte er der türkischen oppositionellen Online-Platform «Ahval». Tatsächlich war Armenien in erster Linie darum bemüht, den Status Quo von Berg-Karabach zu legitimieren. «Aserbaidschan verteidigt auf Berg-Karabach ein Stück Territorium, und wir unsere Menschen. Das war schon seit 1988 so», sagte mir ein armenischer Diplomat in Jerewan. Bei einem Besuch in Stepanakert 2019 bekräftigte der armenische Regierungschef Paschinjan: «Karabach ist Armenien – Punkt!». Die Bevölkerung Berg-Karabachs setzt sich seit 1994 zu über 90 Prozent aus Armeniern zusammen, Baku übt seither auf diese Region auch keinerlei Macht aus. Dennoch: «Karabach ist Aserbaidschan – Ausrufezeichen!», wiederholte der aserbaidschanische Präsident Alijew. Völkerrechtlich gehört Berg-Karabach Aserbaidschan.
Internationale Gemeinschaft alarmiert
Kann die herannahende Katastrophe noch abgewendet werden? Die Frage um Berg-Karabach hat für Armenier und Aserbaidschaner zweifelsohne eine identitätsstiftende Funktion. Die Erinnerung an den Krieg, an die kaum enden wollenden Pogrome und die massenhaften Vertreibungen ist noch frisch und allgegenwärtig. Jeder beliebige populistische Politiker könnte sie in eine emotionale Zeitbombe verwandeln. Und das macht diesen Konflikt so gefährlich.
Noch etwas hebt den Konflikt um Berg-Karabach in seiner Sprengkraft unter allen Regionalkonflikten im postsowjetischen Raum hervor: Der Waffenstillstand von 1994 und der damit verbundene Verlust von Berg-Karabach und den sieben umliegenden Provinzen war für Aserbaidschan eine nationale Demütigung. Seither hat sich Baku aufgerüstet mit hochmodernen, hochraffinierten Waffen aus Russland, aus Israel, aus der Türkei und anderswo und hat diese Käufe mit den Petrodollars bezahlt, die noch bis vor kurzem reichlich in seine Kassen flossen. Diesem Aufrüsten ohne Ende folgte, wenn auch mit weniger Mitteln, auch Armenien. Das «Stockholm International Peace and Research Institute» (Sipri) zählt Aserbaidschan und Armenien zu den zehn heute am stärksten militarisierten Ländern der Welt. Der Kaukasus-Experte Uwe Halbach von der deutschen Stiftung «Wissenschaft und Politik» warnt davor, dass ein erneuter Krieg auf einem weit höheren militärischen Niveau stattfinden könnte, als der erste Karabach-Krieg der 1990er Jahre.
Allmählich dämmert es der internationalen Gemeinschaft, dass der Konflikt um Berg-Karabach das Potential hat, den ganzen Kaukasus einmal mehr an den Rand des Abgrunds zu bringen. Seit letzten Sonntag haben Russland, die EU, die Nato und Washington mit einer Stimme Jerewan und Baku ermahnt, ihre Kriegshandlungen dringend einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Alle – bis auf einen aussenpolitischen Akteur: Erdogan.
Spiel mit dem Feuer
Armenien sei die «grösste Bedrohung für den Frieden in der Region», sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, noch bevor überhaupt klar war, wer den ersten Schuss abgefeuert hatte. Er stellte gleich die Bedingungen für einen Frieden: «Einen Frieden in der Region könne es nur geben, wenn die armenischen Truppen sich aus dem besetzten Territorium Aserbaidschans, inklusiv Berg-Karabach, abziehen». Er beschuldigte gleich die internationale Gemeinschaft, all die Jahre nichts zur Lösung des Konflikts beigetragen zu haben und stachelte an: «Jetzt muss Aserbaidschan sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen». Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar, der in den letzten vier Jahren seinem Präsidenten blind folgt, sprach von einem «abscheulichen Angriff der Armenier». Die Türkei stünde dem Bruderstaat Aserbaidschan «bis zum Ende mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln bei», versicherte er.
In seinem Bestreben, als Regionalmacht respektiert zu werden, wählt Ankara in den letzten vier Jahren bei seinen Militäreinsätzen im Ausland immer dasselbe Vorgehen: Zunächst deklariert es ein Gebiet seiner Nachbarschaft, ob in Syrien, dem Nordirak, im östlichen Mittelmeer oder in Libyen, zur Einflusszone der Türkei. Daraufhin erklärt die Politik, dass in diesem Gebiet die vermeintlichen «nationalen Interessen der Türkei» oder ihrer Alliierten bedroht seien. Schliesslich setzt die türkische Armee ihre inzwischen gut geölte Kriegsmaschinerie in diesem Gebiet ein.
Ankara hatte sich im Jahr 2010 vertraglich verpflichtet, Aserbaidschan im Kriegsfall beizustehen. Die Türkei, die mit Aserbaidschan dieselbe Sprache und Kultur teilt, hielt sich im Konflikt um Berg-Karabach aber lange Jahre zurück. Das hat sich mittlerweile verändert. Im Rahmen dieses Vertrages wurden in diesem Sommer die bislang grössten gemeinsamen Militärübungen in aserbaidschanischen Landesteilen eingeleitet, so in Baku, in Nachitschewan und Gendsche. Tausende türkische Soldaten sollen gemäss der türkischen Presse daran teilgenommen haben. Ankara liess verlauten, dass es auf aserbaidschanischem Territorium eine Militärbasis errichten wolle.
Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Bei einer grösseren bewaffneten Auseinandersetzung im Gebiet müsste auch Russland aufgrund der unzähligen Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit mit Armenien dieses Land am Kaukasus verteidigen. Bis zu 5000 russische Soldaten sind zudem auf armenischem Boden stationiert. Der Konflikt um Berg-Karabach hätte damit den Rahmen des regionalen Konflikts schon weit übersprungen.