Aserbaidschans dreister Propagandafeldzug

«Was haben wir ihnen nur getan, dass sie unsere Häuser so zerstört haben?». Die Reportage des deutschen Politmagazins «Der Spiegel» mit diesem erschütternden Titel beanspruchte nach eigenen Angaben, die «andere Seite des Konflikts um Bergkarabach zu beleuchten». Aus diesem Grund reiste der Reporter ins ehemals besonders lebendige, hübsche Städtchen Agdam am Fusse Bergkarabachs. Dabei wurde er von den aus dieser Ortschaft stammenden Geschwistern Novruzova begleitet, sowie von Sicherheitsbeamten, freilich nur seiner Sicherheit halber. Der Spiegel-Korrespondent war nicht der erste und auch nicht der einzige Vertreter westlicher Medien, der die beschwerliche Reise aus Baku ins ferne Agdam wagte.

«Geführte Reisen» nach Agdam

Seitdem Aserbaidschan und Armenien am 10. November 2020 den von Russland initiierten Waffenstillstand unterzeichnet haben, führt das Regime Ilham Alijews der Weltöffentlichkeit gerne Agdam vor und lässt – auch bei bezahlten Presseausflügen – Journalisten und Journalistinnen aus aller Welt dahin begleiten. Dank der Petrodollars, die noch reichlich in Bakus Kassen fliessen, kann sich sein gutgeölter Propagandaapparat solche Kosten auch leisten.

Agdam scheint für Baku’s Zwecke bestens geeignet zu sein: Die Stadt fiel während des ersten Kriegs um Bergkarabach am 23. Juli 1993 in die Hände armenischer Kämpfer, die seine rund 27’000 Einwohner, beinahe ausschliesslich Aserbaidschaner, umgehend schonungslos vertrieben. Wer heute ins verlassene Städtchen kommt, findet lauter verstreute Steinhaufen, oder so der Spiegel, «ein Feld der Zerstörung» vor: «Ich dachte nicht, dass die Armenier andere Menschen so hassen», zitiert der Reporter Humay Novruzova. Auch seine Familie war 1993 aus der angestammten Heimat brutal vertrieben worden. Nach dem letzten Krieg um Bergkarabach, der mit dem Waffenstillstand am 10. November endete, durften die Geschwister Novruzova erstmals, wenn auch nur kurz, wieder nach Agdam zurückkehren. Dieser Krieg, der aus ihrer Sicht Agdam sowie grosse Teile Bergkarabachs «befreite», könnte, rein theoretisch, den meisten aserbaidschanischen Vertriebenen auch eine permanente Rückkehr in die geschundene Heimat ermöglichen.

Keine Chance für Armenien

«Die technologisch unterlegene armenische Armee hatte keine Chance gegen ihren hochgerüsteten Gegner», stellt der Spiegel-Korrespondent fest. Ob er zu dieser Schlussfolgerung aus Bewunderung über die neu erstarkte Militärmacht Aserbaidschan kommt oder aus purem Entsetzen, bleibt dabei unklar. Armenien ist mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern die kleinste und ärmste Republik des Südkaukasus. Der geballten Macht Aserbaidschans und der Türkei, die Baku mit Drohnen, unzähligen Militärberatern und nicht zuletzt mit aus Syrien stammenden und von Ankara bezahlten Dschihadisten beistand, hatte Armenien wenig entgegenzusetzen. Ohne tatkräftige Unterstützung seiner «Schutzmacht» Russland war es von Beginn an zu einer erniedrigenden Niederlage verurteilt. Der Machthaber in Baku, Ilham Alijew, wähnte sich auch in der Gewissheit, dass «der Krieg sich für die Stärkeren immer auszahlt», als er Ende September seinen Truppen das Zeichen für den Angriffskrieg gab. Der Karabach-Krieg habe gezeigt, dass auch im 21. Jahrhundert «militärische Gewalt als Mittel zur Neuzeichnung politischer Landkarten nicht ausgedient hat», kommentierte unlängst die NZZ.

… und die Welt schaut zu

Die Weltgemeinschaft hat den letzten Krieg in Bergkarabach nicht verhindern können. Vielmehr nahm sie den unverhohlenen Einsatz roher Gewalt gleichgültig zur Kenntnis, oder gab sich höchstens verbal besorgt. Dies stärkte Potentaten wie Erdogan und Alijew den Rücken und ermuntert sie, weiterzumachen. Der Waffenstillstand bedeutete faktisch die totale, erniedrigende Kapitulation Armeniens. Allein dies reicht aber dem Machthaber in Baku nicht aus. Er strebt nun den moralischen Sieg über Armenien an. Dafür soll Armenien für «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag gezogen werden. Dabei beschuldigen internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch mehrheitlich Armeeangehörige Aserbaidschans gravierender Menschenrechtsverletzungen. Vertretern westlicher Medien Agdam vorzuführen, scheint aber vorerst die Priorität Bakus zu geniessen.

«Was haben wir ihnen nur getan, dass sie unsere Häuser so zerstört haben?», fragten die Geschwister Novruzova beim Anblick ihrer ehemals so schönen Stadt. Die unbeantwortete Frage in der Reportage lässt dabei suggerieren, dass in Wirklichkeit Aserbaidschan das «Opfer armenischer Aggression» ist oder dies gar schon immer war. Und es lässt zumindest die Schlussfolgerung zu, dass die Armenier gleichwohl «Schuld» seien an ihrer Not. Es suggeriert, sie seien die aggressiven Täter.

Die Geschichte erklärt das Warum: Pogrome an Armeniern

Jeder Krieg hat die Eigenschaft, eine Art von Zentrifugalkraft zu entwickeln, die die Beteiligten – und sehr oft auch die Medienvertreter vor Ort – auf die eine oder andere Seite schleudert. Im Konflikt um Bergkarabach hätte dabei ein einfacher Blick in die jüngste Geschichte der Region jedem Journalisten zumindest schemenhaft Antworten auf diese offenen Fragen der Geschwister Novruzona geben können.

Zum Beispiel über das Pogrom in der Industriestadt Sumgait am Kaspischen Meer. Im Februar 1988 zog ein wütender Mob Aserbaidschaner durch die armenischen Viertel Sumgaits, vergewaltigte Frauen und zerstörte Schulen, Geschäfte und Häuser. Es war die Reaktion auf den Wunsch der Karabach-Armenier, sich von der Sowjetrepublik Aserbaidschan abzuspalten. Baku schaute dem Pogrom tagelang tatenlos zu. Als die Armee schliesslich eingriff, billigte die völlig eingeschüchterte armenische Minderheit widerstandslos ihre Vertreibung aus der angestammten Heimat. Sumgait blieb fortan eine Armenier-freie Stadt.

Die Geschichte der Region hätte auch Einblick über das Pogrom vom Januar 1990, diesmal in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, gewähren können. Aserbaidschanische Demonstranten zogen damals, mit Stöcken und Stangen bewaffnet, durch die armenischen Viertel der Hauptstadt und skandierten wie zwei Jahre zuvor in Sumgait: «Tod den Armeniern» und «wir werden euch ausrotten». Zahllose Wohnungen wurden geplündert, Frauen vergewaltigt, Schulen und Kirchen zerstört. Zur Zeit des Pogroms 1990 zählte die armenische Minderheit der Sowjetrepublik Aserbaidschan rund 400’000 Mitglieder, davon lebten rund 300.000 in Baku. Heute dürfte in Aserbeidschan kaum noch ein Armenier zu finden sein.

Agdam ist tragischer Schlussakt im Karabach-Konflikt

Während des ersten Kriegs um Bergkarabach haben beide Kriegsgegner sich ihrer jeweiligen «Anderen» entledigt. Von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen zogen zu Beginn der 1990er Jahre über eine Million Menschen entrechtet, entwurzelt und perspektivlos in die Randgebiete der Grossstädte, in vergessene Flüchtlingslager und in vom Krieg zerstörte Städte. Etwa die Hälfte davon waren Armenier.

«Wir haben die Armenier immer gut behandelt», zitiert der Spiegel Humay Novruzova. Dass weder sie, noch ihr Bruder Novruz, ein Journalist der Zeitung «Movque.az», nichts von der endlosen Serie von Säuberungen in seinem Land gewusst haben will, scheint selbst für Nichtkenner unwahrscheinlich.

Apropos: Glaubt man Augenzeugen jener Gewaltära, wie etwa dem polnischen Journalisten Ryszard Kapuscinski, dann wurde der erste Krieg um Bergkarabach wie auch jetzt der letzte von Aserbaidschan begonnen.

So gesehen ist Agdam nicht der Ursprung, sondern der vorläufig tragische Schlussakt im Karabach-Konflikt, bei dem auf der einen Seite der tiefe Wunsch der armenischen Urbevölkerung nach Selbstverwaltung steht und auf der anderen die Entschlossenheit eines Staates, seine territoriale Souveränität mit allen Mitteln zu verteidigen.

Akram Aylisli war jahrzehntelang als der grösste lebende aserbaidschanische Autor gefeiert worden. Bis er die Vernichtung ehemaliger armenischer Orte, etwa seiner Heimat Aylis durch die Jungtürken und ihre aserbaidschanischen Mittäter, in seinem Roman Steinträume verarbeitete.  «Dieser Roman wäre vermutlich nie erschienen, hätten nicht die Machthaber eine mit jedem Tag wütendere, aggressiv anti-armenische, menschenfeindliche Propaganda geschürt, die nicht nur jegliche moralischen und humanitären Prinzipien ausser Acht, sondern auch nicht die geringste Chance für eine zukünftige Versöhnung liess», schrieb er in einem «offenen Brief an meine Leser». Seither wird der heute achtzigjährige Autor von der Führung seiner Heimat verachtet, entrechtet und verfolgt.