Aus den Schlagzeilen: Die Übergriffe Erdoğans gegen die Kurden
In den späten Abendstunden des 30. August 2021 kam es im Flüchtlingslager Qadiya der nordirakischen Autonomen Region Kurdistan zu einer starken Explosion. Zwei Kinder starben, mehrere Personen wurden verletzt. Das Lager Qadiya war Ende 2014 unweit der kurdischen Stadt Zakho errichtet worden, um die vertriebenen Jesiden unterzubringen. Bilder von fanatischen IS-Dschihadisten, die im Sommer 2014 diese religiöse Minderheit in deren Siedlungsgebiet Sindschar/Shingal im Nordirak überfielen, Tausende Männer gleich umbrachten und Frauen und Kinder versklavten, erschütterten damals die Weltöffentlichkeit. Auch nach der Niederlage des IS konnten die traumatisierten Jesiden nie in ihr Siedlungsgebiet zurückkehren. Sie leben noch immer verstreut in verschiedenen Lagern. Das Flüchtlingslager Qadiya beheimatet heute rund 2‘500 Bewohner. Noch ist unklar, was genau zur Explosion Ende August führte. Vieles weist aber auf einen Luft- oder Drohnenangriff der Türkei hin. Seither breiten sich im Lager Angst und Unsicherheit aus.
Angriffe auf Spitäler sind Kriegsverbrechen
Seit Wochen eskaliert die türkische Armee ihre Angriffe im gesamten nordirakischen Kurdistan und tötet mit ihren immer raffinierteren Drohnen hochrangige Kader der kurdischen Bewegung. In der Sprachregelung Ankaras werden diese „PKK-Terroristen“ „neutralisiert“. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) hatte 1984 im kurdischen Südostanatolien der Türkei ihren Krieg um Unabhängigkeit für die schätzungsweise 15 Millionen Kurden des Landes begonnen, tritt aber seit Jahren nur noch für eine Autonomie ein. Diesem offiziell nie erklärten Krieg sind allein in der Türkei weit über 40‘000 Menschen zum Opfer gefallen.
Kurden sind ein Volk von heute über 30 Millionen Menschen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts verteilt in vier Ländern des Nahen Ostens leben: in der Türkei, im Irak, in Syrien und in Iran. In diesem riesigen geographischen Raum kursiert seit Jahren immer dieselbe Anekdote. Nämlich: Hätten die Kurden auf dem Mond eine freie Heimat geschaffen, würde die türkische Armee losziehen, um selbst dieses Stückchen Land zu vernichten. Die Türkei hat jede Autonomiebewegung der Kurden, in welchem Land auch immer, als schlechtes Beispiel für die eigene kurdische Minderheit betrachtet und bekämpft. Nach 2016 wird Ankaras Krieg gegen die PKK vor allem im kurdischen Nordirak und im von Kurden bewohnten Nordsyrien ausgetragen.
Tödliche Drohnenangriffe der Türkei
Kampfflugzeuge F-16 haben am 17. August beim jesidischen Dorf Sikiniya im Nordirak eine Klinik getroffen. Die Klinik, laut der französischen Nachrichtenagentur AFP die einzige medizinische Einrichtung der Region, wurde dabei „völlig zerstört“. Acht Personen kamen ums Leben, vier davon waren Mitarbeiterinnen der Klinik. Vier weitere sollen verletzte Mitglieder der jesidischen PKK-nahen „Sinjar Resistance Units“ (YBS) gewesen sein. „Vier PKK-Terroristen sind neutralisiert worden“, verkündete daraufhin das türkische Verteidigungsministerium. Dennoch: Angriffe auf Spitäler und/oder Flüchtlingslager sind völkerrechtlich ein Kriegsverbrechen.
Die Allianz zwischen der islamistischen AK-Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der extrem-nationalistischen MHP, die seit 2016 die Türkei regiert, kümmert sich herzlich wenig um internationales Recht: Nur einen Tag vor dem Angriff auf das Spital in Sikiniya schlug eine türkische Drohne mitten auf dem alten Markt des Städtchens Sindschar in ein Auto ein und tötete auf der Stelle das hochrangige (YBS)-Kader Said Hesen und seinen Begleiter. Der Drohnenangriff ereignete sich faktisch vor den Augen des irakischen Ministerpräsidenten Mustafa Al-Kadhimi: Al-Kadhimi befand sich gerade im Dorf Kocho, um der Massentötung von mehr als 800 Jesiden durch den IS 2014 zu gedenken. Anschliessend wollte er mit dem gerade von der türkischen Drohne getroffenen YBS-Kommandanten eine friedliche Lösung der Sindschar-Frage und eine sichere Rückführung der Flüchtlinge in ihre Heimat aushandeln. Man schätzt, dass rund 200‘000 Jesiden perspektivlos und ohne Zukunft für ihre Kinder in unterschiedlichen Lagern des Nordiraks vegetieren.
Drei sich rivalisierende Milizen
Sindschar ist eines von 14 umstrittenen Gebieten, die von der irakischen Zentralregierung wie von der Autonomen Region Kurdistan beansprucht werden. Seit Jahren wird es von einem Flickenteppich aus verbündeten und rivalisierenden Milizen beherrscht: Die PKK hatte im August 2014 dem IS, der damals noch als unbesiegbar galt, die Stirn geboten und konnte Abertausende Jesiden retten, indem sie einen Korridor zum belagerten Sindschar-Gebirge errichtete. Seither ist sie und die ihr nahestehende YBS auf dem Sindschar-Gebirge und seiner Umgebung präsent.
2017 stiessen erstmals auch die von Iran und Bagdad unterstützten Volksmobilisierungseinheiten (PMU) in die Region vor. Vor Ort sind schliesslich die bewaffneten Peshmergas der Demokratischen Partei Kurdistans im Irak (KDP) zu finden. Die Konflikte zwischen diesen drei rivalisierenden Milizen haben bislang jede Normalisierung der Lage in der Heimat der Jesiden verunmöglicht. Der YBS-Kommandant Said Hesen, den ausgerechnet die irakische Armee zum Treffen mit dem Premier eingeladen hatte, war in seiner Gemeinschaft respektiert. Er hätte einen Frieden erzielen können. Seine Ermordung durch die Türken darf eine Einigung wieder in weite Ferne rücken lassen.
Völkerrechtswidrige Besetzung
Für Kritiker der Regierung in Bagdad handelt es sich um eine grobe Verletzung der irakischen Souveränität. „Die Türkei ermordet einen Mann, der von irakischen Militärs zu einem Treffen mit dem Premier gerufen wurde, und die Regierung schweigt“, zitierte das online-Portal al-Monitor Matthew Travis Barber. Barber hatte sich mehrere Jahre lang mit den Folgen des Genozids an den Jesiden auseinandergesetzt und gilt als guter Kenner ihrer Gesellschaft. „Das Ausbleiben einer Reaktion auf diese Beleidigung verstärkt in Bagdad das Gefühl der Schwäche, welche die Türkei immer wieder gerne zu unterstreichen versucht“. Für die Regierung in Bagdad muss es tatsächlich erniedrigend sein, dass die türkische Armee seit letztem Frühling ihre Angriffe gegen die PKK im Irak pausenlos fortsetzt, mittlerweile ein Gebiet entlang der gemeinsamen Grenze bis zu 30 Kilometer tief im irakischen Territorium völkerrechtswidrig besetzt und dort ohne Absprache über 40 militärische Stützpunkte errichtet hat. Iraks Regierungschef Al-Kadhimi kann allerdings herzlich wenig anrichten, um die Souveränität seines Landes effektiv gegen solche Angriffe von aussen zu schützen. Der Krieg, den die irakische Armee in den 1980er Jahren gegen Iran geführt hatte, die Invasion westlicher Mächte gegen Saddam Hussein in den 1990er Jahren und schliesslich der Vormarsch des IS nach 2010 haben das Land in die Knie gezwungen.
Ausweitung des Kriegs gegen die PKK
Türkische Politikexperten weisen inzwischen auf eine „neue, umfassendere PKK-Strategie Ankaras“ hin. Soner Cagaptay, Leiter des Turkish Research Program des Washington Institute for Near East Policy, macht beispielsweise einen dreistufigen Plan der türkischen Armee aus, der zum Ziel habe, erstens die PKK aus der Türkei ganz zu vertreiben, und zweitens den PKK-Mitgliedern in der gesamten Autonomen Region Kurdistan des Nordiraks nachzujagen und auch das PKK-Hauptquartier in den Qandil-Bergen direkt an der iranisch-irakischen Grenze anzugreifen. In Nordsyrien sollten schliesslich gezielt hochrangige Funktionäre der Volksschutzeinheiten (YPG) ermordet werden. Auch der Militärexperte Metin Gürcan spricht von einem offenen „Zermürbungskrieg“ gegen die YPG.
Exverbündete der USA sind Zielscheibe der Türkei
Die YPG bildete nach 2015 das Rückgrat der von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), und ihre Kämpfer führten den Kampf gegen den IS am effektivsten vor Ort. Sie galten jahrelang auch als die wichtigsten Alliierten der Europäer. Bilder und Filme von jungen Kämpfern und Kämpferinnen, die sich über die bärtigen Dschihadisten lustig machten, füllten die Frontseiten zahlreicher Medien und viele Sendungen von TV-Programmen.
Signalisiert der 19. August eine neue Strategie in Nordsyrien? An diesem Tag wurde jedenfalls das Fahrzeug des bekannten Feldkommandeurs Salahuddin Shahabi auf der Strasse von Qamisli nach Amuda durch eine türkische TB-2- Bayraktar-Drohne zerstört. Noch am selben Tag folgte ein zweiter Angriff auf das YPG-Hauptquartier in der Stadt Tal Tamer, wo gerade ein hochrangiges Treffen stattfand. Acht YPG-Kommandeure kamen ums Leben und neun weitere wurden verletzt. Unter den Toten befand sich auch Sosin Birhat von den Frauenschutzeinheiten, dem rein weiblichen Zweig der YPG. Dabei trafen sich Sosin Birhat und manche der übrigen Opfer vor nicht allzu langer Zeit noch in diesem Gebäude mehrere Male mit namhaften US-Generälen und planten gemeinsam den Kampf gegen die Dschihadisten des IS in Syrien.
Der türkische Militärexperte Metin Gürcan rechnete sich aus, dass die YPG innerhalb von nur einer Woche bei rund 20 türkischen Drohnenangriffen rund zwei Dutzend Mitglieder, darunter hochrangige Persönlichkeiten und militärische Befehlshaber verloren haben soll.
Der Westen bedankt sich bei der Türkei
„Werden die Kurden einmal mehr im Stich gelassen?“, fragt Karwan Faidhi Dri, Kommentator der kurdischen Nachrichtenagentur des Nordiraks rudaw. Seine Enttäuschung und seine Zweifel sind gross. Nicht zu Unrecht. Kurz nachdem der IS 2019 auch dank dem Einsatz der kurdischen YPG-Kämpfer in Nordsyrien besiegt wurde, gab Donald Trump das grüne Licht für die türkische Invasion im kurdischen Nordsyrien. Die schlecht ausgerüstete YPG war der militärischen Übermacht der Türkei faktisch schutzlos ausgeliefert. Türkische Truppen und ihre syrischen Alliierten marschierten in die Städte und Dörfer der Kurden ein und besetzen seither Teile des Nachbarlands. Hunderttausende wurden vertrieben.
Und Joe Biden, der den Kurden eine andere Politik als jene seines Vorgängers versprochen hat?
Der US-Präsident beschloss im Alleingang den Rückzug seiner Truppen aus Afghanistan. Das tragische Debakel des ungeordneten Abzugs aus Kabul hat den Westen in Beschlag genommen. Das nützte die Türkei aus. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat während seiner zwanzigjährigen Laufbahn als türkischer Staatsmann mehrmals unter Beweis gestellt, dass er die Schwächen seiner Alliierten oder Rivalen selbstbewusst und durchaus gekonnt für seine persönlichen Interessen oder für die Interessen seines Landes ausspielen kann.
Bereits beim letzten Nato-Treffen verkündete Erdoğan seinen Amtskollegen, dass allein die Türkei fähig sei, die Sicherheit des Flughafens in Kabul nach einem Abzug der Nato-Truppen zu garantieren. Er suchte den Kontakt zu den Taliban und bot ihnen gleich nach ihrer Machtübernahme seinen diplomatischen Beistand an. Mit der Ideologie der Taliban habe er kein Problem, verkündete der Präsident. Diese neutrale Haltung ermöglichte der türkischen Armee, in den letzten Wochen des Chaos in Kabul für die Evakuierung von über tausend Personen zu sorgen. Dafür erntete Ankara grossen Lob: US-Aussenminister Antony Blinken, der noch vor kurzem Erdoğans Regime als autokratisch abkanzelte, nannte die Türkei auf einmal einen «wichtigen Nato-Verbündeten und einen unschätzbaren Partner in der Region». In diese Kerbe schlug auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der sich bei den «Streitkräften der Nato-Verbündeten, insbesondere der Türkei, der USA und des Vereinigten Königreichs für ihre entscheidende Rolle bei der Sicherung des Flughafenbetriebs in Kabul» bedankte. Gleichzeitig sprach der EU-Aussenbeauftragte Joseph Borell der Türkei eine «wichtige Rolle beim Stoppen des Zustroms von afghanischen Flüchtlingen in die EU» zu.