Erdogans Kampf gegen «perverse» LGBT
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan beschwor Anfang Februar die Jugend seiner regierenden AKP-Partei, dass allein sie die Zukunft der Türkei bestimmen könne. «Ihr seid die Jugend, die die glorreiche Vergangenheit in Euch trägt und mit nationalen, spirituellen Werten voranmarschiert. Ihr seid keine LGBTs», sagte er während eines virtuellen Parteikongresses. Er beschuldigte LGBT-Aktivisten, «junge Menschen zu vergiften», und unterstrich mit Nachdruck: «Wir respektieren jede Ansicht und Idee, solange sie nicht durch Terror und Abweichung kontaminiert ist». Letzten Mittwoch steigerte sich seine Anti-LGBT-Rhetorik noch weiter: LGBT-Menschen hätten keinen Platz in der Zukunft der Türkei, erklärte er in aller Öffentlichkeit und sprach ihnen überhaupt das Recht ab, in der Türkei zu existieren. «Gibt es überhaupt so was wie LGBT?».
Den engen Vertrauten ist der türkische Präsident seit längerer Zeit für seine epischen Zornausbrüche bekannt. Und dafür berüchtigt. Und Erdogan war diesmal wirklich zornig, allerdings weniger auf die LGBT-Gemeinschaft der Türkei, sondern vielmehr auf die Studenten der Istanbuler Universität Bogazici. Diese hatten es vorige Woche gewagt, auf dem Campus ein Kunstwerk aufzustellen, welches das Bild der islamischen heiligen Stätte der Kaaba mit Regenbogensymbolen zeigte. Dies ging Erdogan, der sich als Sprecher des politischen Islam versteht, zu weit. Oder ging es ihm im Wirklichkeit um mehr als nur das, aus seiner Sicht demütigende, Kunstwerk?
Anhaltende Proteste der Studenten
Am 1. Januar hat der türkische Präsident seinen Parteifreund Melih Bulu per Dekret zum neuen Rektor der Universität Bogazici ernannt. Erdogan ist dazu berechtigt: Gemäss dem Präsidialrecht vom Juli 2018, das dem Staatsoberhaupt der Türkei beinahe unbeschränkte Kompetenzen einräumt, darf der Präsident die Rektoren der Hochschulen benennen. Die Autonomie der Universitäten war nach dem misslungenen Putschversuch im Juni 2016 ohnehin per Dekret aufgehoben worden. Die Entlassung von rund 9000 Lehrkräften, oft mit sehr hoher wissenschaftlicher Reputation, sorgte zusätzlich dafür, den akademischen Lehrkörper gefügig zu machen.
Dennoch: die Universität Bogazici stand schon seit je im Ruf, die renommierteste Hochschule des Landes zu sein. Hoch über dem Bosporus gelegen, war sie seit ihrer Gründung vor 158 Jahren auch der Ort, der die besten Köpfe und freiesten Geister des Landes beherbergt hat. Eine grobe Einschränkung ihrer institutionellen Unabhängigkeit hatte bislang niemand gewagt – nicht einmal die bis vor wenigen Jahren noch allmächtige Generalität. Dass Erdogan unter Umgehung der an der Bogazici geltenden Regeln seinen Parteifreund Melih Bulu zum Rektor ernennen würde, traf Lehrkörper und Studenten dieser Elite-Universität unvorbereitet. Melih Bulu mag zwar ein loyaler Anhänger Erdogans sein. Seine akademischen Fähigkeiten werden allerdings in Zweifel gezogen.
Seit Bulus Ernennung Anfang Januar halten die von Professoren, Wissenschaftlern und Studenten gemeinsam getragenen Proteste in Istanbul an. Sie griffen auch auf die Hauptstadt Ankara und auf die westtürkische Metropole Izmir über. Auf TV-Bildern kann man seither sehen, wie der Lehrkörper der Bogazici-Universität sich vor dem Sitz des Rektorats aufstellt, immer demonstrativ mit dem Rücken zu seinem Zimmer. Auf TV-Bildern kann man ferner auch sehen, wie demonstrierende Studenten und Studentinnen auf offener Strasse von Polizisten zusammengeschlagen und festgenommen werden.
«Provokateure, die die Türkei ersticken wollen»
Der Konflikt um die Bosporus-Universität eskaliert seit diesem Wochenende wieder gefährlich. Den Anlass dazu gab Innenminister Süleyman Soylu, als er im Campus die Schöpfer des von Erdogans Islamisten umstrittenen Kunstwerks festnehmen liess. Dann verordnete er am späten Montagabend seiner Bereitschaftspolizei, den Campus zu betreten. Die Proteste der Studenten weiteten sich von der Universität auf andere Viertel der Metropole aus. Letzten Dienstag hatten sich mehrere hundert Studenten etwa im asiatischen Stadtteil «Kadiköy» versammelt. Aus Solidarität schlugen die Bewohner dieses traditionell säkularen Istanbuler Viertels laut auf Töpfe und Pfannen und unterstützten die Demonstranten aus offenen Fenstern mit Applaus und Pfiffen. Die Demonstrationen um die Bogazici drohen auf einmal zu einer grösseren sozialen Protestbewegung auszuarten, wie im Jahr 2013 nach dem Aufstand der Jugend im Istanbuler Gezi-Park.
Jeder Bezug auf Gezi macht die Koalitionspartner in Ankara aber spürbar nervös. Bezeichnenderweise sprach der Vorsitzende der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und Erdogans Hauptallierter in der Regierung, Devlet Bahceli, von «Schädlingen», «Giftschlangen» und «Provokateuren, die die Türkei ersticken» wollten: «Alles, ausser Studenten, einschliesslich aller Arten von Schädlingen und anarchistischen Gruppen», hätten sich vor den Toren dieser Universität eingenistet, soll er laut der linken Zeitung Evrensel ausgerufen haben. Innenminister Süleyman Soylu hingegen hat, wie Präsident Erdogan, die Eskalation der LGBT-Gemeinschaft zugeschrieben. In einer Nachricht auf Twitter machte er sogenannte «LGBT-Perverse» für die Demonstrationen verantwortlich und rief die Studenten auf, sich auf «die grosse und starke Türkei vorzubereiten, anstatt in eine von linken Politikern gestellte Falle zu tappen. Sollen wir LGBT-Abweichler tolerieren?», fragte er, um in einem Atemzug gleich die Antwort zu geben: «Nein».
Homosexualität ist in der Türkei nicht illegal. Während des Osmanischen Reichs war sie in den Palästen der Sultane nicht nur geduldet, sie war auch gefördert worden. In der jüngeren Geschichte des Landes genossen Trans-Sängerinnen wie Zeki Müren und Bülent Ersoy grosses Ansehen. Der Mangel an gesetzlichem Schutz für die LGBT-Gemeinschaft machte ihre Mitglieder aber immer wieder zu Opfern von Diskriminierung und Belästigung. Als Erdogan die Wahlen um die Jahrtausendwende gewann, liess er die Hoffnung auf Reformen auch in diesem Bereich aufkommen.
LGBT-(Gemeinschaft) «könnte unsere Familienstruktur zerstören»
In den letzten fünf Jahren verzeichnet die Situation der LGBT-Gemeinschaft aber nur noch Rückschritte: Die türkische Regierung lässt den jährlichen Gay-Pride-Marsch in Istanbul mit dem Hinweis auf Sicherheitsbedenken konsequent verbieten. Und da das rechtsextreme Gedankengut in der Gesellschaft zunehmend Wurzeln schlägt, werden sie für den Verfall der nationalen Werte verantwortlich gemacht: «Gibt es sowas wie LGBT in unserer Vergangenheit?», fragte Innenminister Soylu in einem vom Fernsehsender Haber Global ausgestrahlten Interview. Die LGBT-(Gemeinschaft) sei aus dem Westen importiert, hätte «mit unseren Werten nichts zu tun und könnte unsere Familienstruktur zerstören». Süleyman Soylu gilt nach Erdogan als der zweitmächtigste Mann in der Türkei.
Der neue Rektor der Bogazici-Universität Melih Bulu machte am Mittwoch klar, dass er keinen Grund für einen Rücktritt sehe. Er habe bereits prognostiziert, dass die Protestwelle spätestens in sechs Monaten abgeebnet sein werde, erzählte er dem TV-Sender Habertürk. «Und das ist, was auch passieren wird». Laut offiziellen Angaben sind im Lauf der letzten Tage rund 300 Personen festgenommen und, abgesehen von 30 Inhaftierten, wieder auf freiem Fuss gesetzt worden. Einige von ihnen gaben der Presse an, in den Polizeistationen geschlagen, gefoltert und sexuell belästigt worden zu sein.