Im Südkaukasus tobt ein Krieg um den Zangesur-Korridor
Ein Witz machte in der armenischen Hauptstadt Jerewan neulich die Runde. Demnach treffen sich zwei alte Bekannte zufällig auf dem zentralen «Platz der Republik». «Warum kannst du denn nicht schlafen?», will der eine von seinem sichtbar erschöpften Freund wissen. «Weil ich Angst habe, heute in Armenien ins Bett zu gehen und morgen in Aserbaidschan zu erwachen», so die Antwort. Armenier stehen allgemein im Ruf, dramatische Ereignisse ihrer Geschichte mit schwarzem Humor zu begegnen. Und der bisherige November hat Armeniens Zivilbevölkerung allen Grund dazu gegeben.
Am 16. November gegen Mittag wurden aus dem armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet schwere Gefechte gemeldet: Aserbaidschanische Streitkräfte hätten begonnen, Stellungen in Armeniens südlicher Provinz Syunik mit Artillerie und gepanzerten Fahrzeugen massiv zu beschiessen, alarmierte der Abgeordnete der regierenden Partei «Bürgerlicher Vertrag» Eduard Aghajanyan als Erster die Presse. Auf einer ausserordentlichen Sitzung des Sicherheitsrates sprach Regierungschef Nikol Paschinjan von einer «Aggression gegen das souveräne Territorium Armeniens». «Aserbaidschan und die Kräfte, die es unterstützen, zielen auf unsere Souveränität, unsere Staatlichkeit und unsere Unabhängigkeit», sagte er ohne Umschweife. Dabei gab er erstmals der Öffentlichkeit bekannt, dass Aserbaidschan im letzten Halbjahr «41 Quadratkilometer des souveränen Territoriums der Republik Armeniens besetzt» habe.
Moskaus zwiespältiges Verhalten
In einer Fernsehansprache an die Nation erklärte der Sekretär des Sicherheitsrates Armen Grigoryan, seinen Vertragsverbündeten Russland um Hilfe zu bitten: «Da es sich um einen Angriff auf das souveräne Territorium Armeniens handelt, wenden wir uns gemäss dem Vertrag von 1997 an Russland mit der Aufforderung, die territoriale Integrität Armeniens zu schützen.» Russland ist sowohl auf bilateraler Ebene als auch im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) Sicherheitsgarantien eingegangen, die es verpflichten, Armenien im Falle eines Angriffs zu verteidigen. Moskau reagierte auf das angekündigte Ersuchen Armeniens aber mit «Jein». Der russische Präsident Wladimir Putin telefonierte zwar mit Nikol Paschinjan, erteilte ihm aber eine kalte Dusche. «Was braucht es noch, um Russlands rote Linie zu tangieren?», fragte sich daraufhin die armenische Presse.
Die Bevölkerung fühlte sich einmal mehr in denselben Film versetzt: Als im September 2020 Aserbaidschan mit Hilfe der Türkei das kleine armenisch-verwaltete Berg-Karabach angriff, sah Moskau tatenlos zu. Beim Krieg um Berg-Karabach gehe es um ein Gebiet, das nach 1991 zwar von Armeniern kontrolliert, international aber als aserbaidschanisch anerkannt sei, lautete damals die Antwort aus dem Kreml. Jetzt aber gehe es um Übergriffe auf armenisches Territorium. Als jetzt nach stundenlangen, schweren Kämpfen die Waffen dank einer Vermittlung des russischen Verteidigungsministers wieder zum Schweigen gebracht wurden, zählte Aserbaidschan 7 tote Soldaten und 10 Verletzte. Auf Seite Armeniens gab es 6 tote Soldaten. 24 weitere gelten als vermisst. 12 sind in Geiselhaft geraten. Es handelte sich um die heftigsten militärischen Auseinandersetzungen seit dem Waffenstillstand vom November 2020.
Es geht auch um lebenswichtige Verbindungen
Schon aus diesem Grund verdrängten sie eine für Armenien ebenso folgenschwere Entwicklung aus den Schlagzeilen, die sich gerade auf der Strasse zwischen den armenischen Städten Kapan und Chakate vollzog: Ara Arutyanyan, Bürgermeister von Chakate, wollte am frühen Morgen des 15. Novembers wie gewohnt die regionale Hauptstadt Kapan besuchen, als er an der Strassenseite, die im letzten Halbjahr unter die Kontrolle Aserbaidschans geriet, unerwartet auf neue aserbaidschanische Grenzposten stiess: Militärs seien plötzlich aufgetaucht, 10 bis 15 Personen, und «alle waren maskiert und bewaffnet», sagte er der Presse. Dabei seien die Bewohner von sechs Dörfern völlig auf diese Strasse angewiesen. Wollten sie ihre Bedürfnisse wie gewohnt in Kapan decken, müssten sie nun entweder die von Aserbaidschan neu errichtete Grenze überqueren und womöglich für ihre alltäglichen Waren Zölle bezahlen oder einen 150 Kilometer langen Umweg in Kauf nehmen. Es gebe noch eine dritte Möglichkeit, fügte er verzweifelt hinzu: die Heimat für immer zu verlassen. «Denn wie sonst sollen die Kinder ihre Schulen besuchen und wie sich die Älteren ihre Medikamente besorgen?»
Aserbaidschan, das nach Dezember 2020 kleine Abschnitte dieser Route kontrolliert, hatte den Verkehr bereits am 25. August gesperrt. Dabei bildet diese in der Zeit der Sowjetunion gebaute Autobahn die wichtigste Verkehrsader im Süden Armeniens. Ein Grossteil des bilateralen Handels mit Iran wickelt sich über diese Route ab. Letzten August begründete Aserbaidschans Präsident Ilham Alijev seine Blockade damit, dass iranische Lastwagen das (von Armeniern besiedelte) Berg-Karabach mit Waren illegal versorgt hätten. Die Sperrung vom 15. November schränkt jetzt aber die Bewegungsfreiheit der Armenier innerhalb des armenischen Territoriums ernsthaft ein.
Aserbaidschans mittelfristige Strategie sei es, die Demographie der Region fundamental zu verändern, sagt Benyamin Poghosyan, Leiter des renommierten «Zentrums für politische, wirtschaftliche und strategische Studien» in Jerewan. Die armenische Bevölkerung sei aus Berg-Karabachs Städten Schuschi (aserbaidschanisch Schuscha) und Hadrut bewusst zum Exodus gezwungen worden. Ihr Besitz würde nun willkürlich Aserbaidschanern zur Verfügung gestellt.
Krieg um den Zangesur-Korridor
Aserbaidschans überwältigender Sieg in Berg-Karabach 2020 habe «die strategischen Ambitionen der Türkei für eine stärkere Anbindung an das Kaspische Becken und den türk-sprachigen Raum Zentralasiens über Landstrassen, Eisenbahnen und Energierouten geschürt», kommentiert der türkische Journalist Fehim Tastekin auf der Internet-Plattform al-monitor.
Für die Verwirklichung dieser strategischen Träume ist Ankara allerdings auf einen Landkorridor angewiesen, der die Türkei und Aserbaidschans Exklave Nachitschewan durch Südarmenien mit Aserbaidschan verbindet und den freien Verkehr von Waren und Menschen zwischen der Türkei im Westen und den türk-sprachigen zentralasiatischen Republiken im Osten erlauben würde. Türkische Lastwagen haben bislang Zugang zu Zentralasien entweder über die Iran-Route oder über Georgien und Russland und müssen sich der Kontrolle dieser Staaten unterziehen und oft teure Zölle bezahlen.
Seit einem Jahr fordern Erdogan und sein aserbaidschanischer Amtskollege Ilham Alijev mit Nachdruck die Errichtung eines «Korridors», der entlang der iranischen Grenze Fahrzeugen und Zügen aus der Türkei und Aserbaidschan ermöglichen würde, durch Armeniens südliche Provinz zu fahren, befreit von Grenz-, Pass- und Zollkontrollen. «Der Tag wird kommen, an dem wir Zangesur (im Westen Aserbaidschans) verlassen und auf dem Landweg nach Istanbul gehen können», schwor der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan feierlich, als er zum ersten Jahrestag des Waffenstillstands Aserbaidschan besuchte. Beide Staatsmänner berufen sich gerne auf das Waffenstillstandsabkommen vor einem Jahr, das versprach, «Alle Wirtschafts- und Verkehrsverbindungen müssen freigegeben werden.» Dabei vergessen beide ebenso gerne, dass in diesem Abkommen von einer grenz-, pass- und zollfreien Zone nirgends die Rede ist.
«Die Verwirklichung der strategischen Träume der Türkei hängt jedoch davon ab, dass Russland als Koordinator und Garant hinter dem Vorschlag steht und die Bedenken Armeniens und Irans in Bezug auf den Korridor zerstreut», schreibt der türkische Journalist Fehim Tastekin weiter. Noch lehnt Armenien einen von Zoll- und Grenz-Kontrollen freien Korridor innerhalb seines Territoriums strikt ab. Auch Teheran hat an einer übermächtigen Türkei, die faktisch Irans nördliche Grenze gänzlich kontrollieren und Irans Zugang über Armenien zum Schwarzen Meer und Russland verunmöglichen würde, kein Interesse. Als in den letzten Tagen des Kriegs 2020 die armenische Front völlig zusammengebrochen war, konnten iranische Truppen mit einem massiven Aufgebot direkt an der gemeinsamen Grenze einen türkisch-aserbaidschanischen Vorstoss, Armeniens Süden zu besetzen, erfolgreich verhindern.
Internationale Untersuchung gefordert
Am 17. November ging die Türkei zu einem verbalen Frontalangriff gegen Armenien über. Dass in unserem post-faktischen Zeitalter Politiker die Gewohnheit haben, Fakten je nach Bedürfnissen anzupassen, war selbst dem geographisch isolierten Armenien bekannt. Ankara beschuldigte aber unumwunden Armenien, mit «gross angelegten Provokationen» gegen Kontrollpunkte der aserbaidschanischen Armee in den Grenzregionen Kalbajar und Latschin die heftigen Gefechte dieser Woche selber heraufbeschworen zu haben: «Armenien hat vor Monaten schon einmal die Grenzen Aserbaidschans verletzt und wurde nach diesen Provokationen besiegt», zürnte der türkische Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu aus Ankara. Er drohte: Im Falle einer neuen Provokation werde Jerewan erneut die Verliererseite sein. Denn «Aserbaidschan ist nicht allein und wird nie allein sein».
Ankaras unerwartete Intervention hat Armenien kaum überrascht, sie kam ihm eher wie ein «Déjà vu» vor, wie ein längst abgespielter Film. Im September 2020 warf die Türkei Armenien vage «Provokationen» vor. Dann setzte der Krieg um Berg-Karabach ein, der von Aserbaidschan mit Hilfe der Türkei ausgetragen wurde und für Armenien mit einer vernichtenden Niederlage endete.
Kann die jüngste Warnung aus Ankara also Omen für einen neuen Krieg sein? Alarmiert über die Heftigkeit der Gefechte forderten die USA und die EU beide Konflikt-Parteien zur höchsten Zurückhaltung auf. Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) appellierte im Europaparlament für eine internationale Untersuchung der militärischen Zusammenstösse an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze. «Wir unterstreichen die Notwendigkeit einer internationalen Untersuchung militärischer Zusammenstösse, einschliesslich wirksamer Sanktionen gegen die Aggressoren», teilte sie in einer Erklärung mit.
Am späten Freitag gelang es dem EU-Ratspräsidenten Charles Michel, Aserbaidschans Präsidenten Ilham Alijev und Armeniens Premier Nikol Paschinjan für ein gemeinsames Treffen am 15. Dezember in Brüssel zu gewinnen. Im Zentrum des Meetings soll dabei die Frage der Demarkation der gemeinsamen Grenze stehen, denn noch hat keines der beiden Länder die neuen, nach dem Krieg 2020 entstandenen Grenzen des anderen offiziell anerkannt. Die fehlende Demarkation führte bislang zu unzähligen kriegerischen Auseinandersetzungen und liess die Frage offen, ob es im Süden Armeniens einen zollfreien Zangesur-Korridor geben darf.