Verlierer und Sieger im Schach um Bergkarabach
Es heisst, die Russen wären im Schachspiel besonders bewandert. Schach zu gewinnen, so die Legende, liege in ihrer DNA. Beim Waffenstillstandsabkommen für Berg-Karabach am 10. November schien es kurz, als wäre dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im geopolitischen Schachspiel um den Südkaukasus tatsächlich ein gewagter Zug gelungen: Putin konnte den Präsidenten Aserbaidschans, Ilham Alijew, am Verhandlungstisch für einen Waffenstillstand gewinnen – und dies ohne Beteiligung der Türkei, die sich mit ihrer Einmischung im Krieg auf Seiten Aserbaidschans einen Platz an dem Tisch sichern wollte und die russische Hegemonie auf dem Südkaukasus damit erstmals herausforderte. War Wladimir Putin also der unumstrittene Sieger, wie das nicht nur die deutsche Frankfurter Allgemeine Zeitung so sah?
Kein nachhaltiges Friedensabkommen
Oder handelte es sich eher um eine hastige Aktion, zu der Putin gezwungen worden war? Aserbaidschan hatte am 8. November, wohl unbeabsichtigt, einen russischen Kampfhelikopter M-24 über der armenischen Provinz Yeraskh abgeschossen. Zwei russische Piloten kamen ums Leben, ein weiterer wurde schwer verletzt. Der von der westlichen Presse wenig beachtete «Unfall» auf armenischem Territorium hätte gemäss den Sicherheitsabkommen in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) Russland automatisch zu einem Kriegspartner auf Seite Armeniens machen müssen. Das Szenario einer russisch-türkischen militärischen Konfrontation in Südkaukasus schien plötzlich real. Der Kreml musste rasch handeln: Zwei Tage später hat Moskau den Konfliktparteien sein Abkommen zum Waffenstillstand präsentiert.
Dieses Abkommen räumt Aserbaidschan mit einem Schlag alle seine ehemaligen Provinzen rund um Berg-Karabach ein – so als hätte eine unsichtbare Hand die Uhr der Geschichte auf das Jahr vor dem ersten Karabachkrieg 1991 zurückgedreht. «Man sagt mir, Krieg könne keine Lösung von Konflikten sein», feierte Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyew, um gleich hinzuzufügen: «Ich aber bin der Meinung, der Krieg kann die Lösung sein». Im ersten Moment schien das Moskauer Abkommen zur Waffenruhe Aserbaidschan für seinen Angriffskrieg entgegenzukommen, gar grosszügig zu belohnen.
Oder war es doch nicht der Fall? Noch sind viele Fragen im Abkommen offen.
Ungeklärter Status von Berg-Karabach
Die wichtigste davon ist etwa der ungeklärte Status von Berg-Karabach. Genau diese Frage aber hat 1991 den Konflikt um Berg-Karabach überhaupt ausgelöst. Die Bewohner Berg-Karabachs, seit Urzeit in ihrer überwiegenden Mehrheit Armenier, erklärten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit und begründeten dies mit dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung. In Anlehnung auf das Recht der Staaten auf ihre territoriale Souveränität erklärte Aserbaidschan seiner aufmüpfigen und bis dahin autonomen Region Berg-Karabach daraufhin den Krieg. 1994 hatte Baku den Krieg verloren – und somit auch die sieben umliegenden Provinzen, die das Moskauer Abkommen nun Aserbaidschan so grosszügig zurückerstattete. Die Frage nach dem Status Berg-Karabachs bleibt aber weiterhin offen und damit ungelöst. Dabei hatte Aserbaidschan davon geträumt, nach diesem Krieg ein für alle Mal den Konflikt Berg-Karabach zu seinen Gunsten zu beenden. Ilham Alijew, der sich als Sieger feiern liess, musste insgeheim noch eine weitere Konzession eingehen: Er musste den Einzug russischer Friedenstruppen auf sein Territorium zulassen – zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion überhaupt.
Albtraum ohne Ende
Russische Friedenstruppen sind inzwischen in Berg-Karabach eingetroffen. Sie sollen künftig den neuen Grenzverlauf kontrollieren. TV-Sender, die sie auf ihrem Weg nach Stepanakert, der Hauptstadt Berg-Karabachs, begleiteten, zeigten Bilder einer enthemmten Vernichtungswut. So war die Hauptverkehrsachse bei der umkämpften Stadt Schuscha noch völlig übersät von Leichen. Und das noch vor wenigen Monaten so fröhlich anmutende Stepanakert lag über weite Strecken in Trümmern, offensichtlich ohne Elektrizität und ohne Gas. Hätte er das Abkommen vom 10. November nicht unterzeichnet, so beteuerte der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan, drohten ganz Berg-Karabach an Aserbaidschan verloren zu gehen und die verbliebenen 25’000 bewaffneten Armenier in diesem aussichtslosen Kampf massakriert oder zu Geiseln zu werden.
«Wo dürfen Armenier noch leben?»
Für die Armenier ist ihre neue Realität nach dem Krieg ein Albtraum ohne Ende. «Wer bin ich?», fragte sich die junge Journalistin aus Stepanakert, Lika Zakyrjan, in ihrem Bericht. «Der Bürger wessen Staates? Wo werde ich leben dürfen? Ich habe keine Antwort auf diese Fragen.» Das Abkommen vom 10. November gibt Armeniern genauso wenig Antworten. «Wo überhaupt dürfen die Armenier noch leben?», fragte sich ein Bauer aus Kelbatschars. Kelbatschar ist die erste Provinz, die gemäss dem Abkommen von Armeniern geräumt werden muss. Kelbatschar war bis zum ersten Krieg um Berg-Karabach von Aserbaidschanern besiedelt, als in einer ungebrochenen Serie ethnischer Säuberungen die rund 350’000 zählende armenische Minderheit aus Aserbaidschan und rund 600’000 Aserbaidschaner aus Armenien und den Provinzen rund Berg-Karabach vertrieben worden waren. Das Moskauer Abkommen sieht nun eine Rückkehr der aserbaidschanischen Flüchtlinge im Kelbatschar vor: «Wo überhaupt dürfen aber die Armenier noch leben?», fragte sich auch der Bauer, der wie die meisten Siedler hier schon einmal aus seiner angestammten Heimat vertrieben worden war und nun vor einem weiteren Exodus steht. Es lag viel Verzweiflung in seiner Stimme.
Vom Held zum «Verräter»
Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan war im Frühling 2018 der Held seiner Nation. Seiner Demokratisierungsbewegung gelang es damals, die alte korrupte Politikergarde friedlich aus dem Amt zu fegen und in dieser entfernten Ecke des Kaukasus die Hoffnung auf einen Rechtsstaat zu wecken. Gerade diese Hoffnung liess mächtige Kreise in Moskau und Baku erschaudern. Nach der Unterzeichnung des Moskauer Dokuments haftet an Nikol Paschinjan nun der Geruch des Vaterlandsverräters. Er und sein «neues Armenien» gelten als die grossen Verlierer des Kriegs und des Moskauer Abkommens.
Mittelfristig dürfte sich noch ein weiterer Akteur auf der Seite der Verlierer finden: Moskau selbst. Hundert Jahre lang galt Armenien als der treueste strategische Alliierte Moskaus auf dem Kaukasus – vor allem aus einem Grund: Zwischen 1915 und 1917 waren auf Anordnung der Jungtürken über eine Million Armenier des Osmanischen Reichs elendig ums Leben gekommen und ihre tausendjährige Kultur in Ostanatolien wurde ausgelöscht – es handelte sich um den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent. Der jüdische Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel nannte es «einen Holocaust vor dem Holocaust». Da die Türkei das unfassbare Verbrechen nie als Genozid anerkannt hat, erhöhte sich das Schutzbedürfnis der Armenier, liess sie glauben, dass sie ohne den Schutz der russischen Grossmacht von den «Türken» buchstäblich in ihrer Existenz bedroht wären. So verwandelte sich Armenien zum einzigen treuen Alliierten der Moskauer Staatsmacht auf dem Kaukasus. Dieser Krieg machte den Armeniern nun klar, dass die Allianz mit Russland nicht automatisch Schutz bedeutet. Seither haftet auch Moskau unauflöslich der Geruch des Verrats an. Russland verspielte damit auch das Vertrauen vieler anderen Mitglieder der russisch dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), die nun den Kreml daran messen, wie er mit der Sicherheit des OVKS-Mitglieds Armenien umgegangen ist. Vermutlich hätte der Kreml aus geostrategischen Überlegungen besser von Beginn an seine roten Linien auf dem Kaukasus klarer signalisieren sollen, statt sich mit einer Rolle des Pontius Pilatus zurechtzufinden. Vermutlich ist Wladimir Putin doch kein guter Schachspieler.
Wie weiter?
So gesehen, gibt es lauter Verlierer in diesem Krieg – ausser die Türkei. Dass das Moskauer Abkommen der Türkei die freie Benützung eines Korridors über armenisches Territorium und damit einen direkten Zugang zum Kaspischen Meer und darüber hinaus zu den türkisch-sprachigen Republiken Zentralasiens einräumt, sehen türkische Strategen und Rechtnationalisten als die Erfüllung eines langjährigen Traums. Und fühlen sich einmal mehr darin bestätigt: Der Krieg zahlt sich für den Stärkeren immer aus. Es ist eine verhängnisvolle Schlussfolgerung.
Seit 2016 scheuen sich Erdogan und sein rechtsextremer Alliierte in der Regierung, Devlet Bahceli, nicht davor, Waffen im Ausland einzusetzen. Vor allem, wenn es darum geht, allfällige «nationale Interessen» der Türkei oder den Anspruch auf Mitsprache im Nahen Osten, im Kaukasus, im östlichen Mittelmeerraum, in Libyen oder anderswo zu verteidigen. Sie fühlen sich dabei sicher, weil ihnen eine Armee zur Seite steht, die bislang ihre Abenteuer im Ausland vollends unterstützt. Ihnen zur Seite steht ferner eine Rüstungsindustrie, die in Massen die besonders tödliche «Wunderwaffe» Ankaras, die Bayraktar TB2s Drohne, produziert und der Türkei den Hauch der «Unschlagbarkeit» verleiht. Und sie sind sich bewusst, dass abgesehen von der durch Repression dezimierten linken prokurdischen HDP-Partei das gesamte politische Spektrum des Landes ihre kriegslüsternen Abenteuer im Ausland bejubelt.
Vielfrontenkrieg der Türkei
Heute führt die Türkei einen Vielfronten-Krieg in Libyen sowie in Syrien, im kurdischen Nordirak und auf dem Kaukasus – und bald auch in der Ägäis? Aus der Türkei Erdogans ist ein Ungeheuer entstanden – auch weil die USA Donald Trumps, die NATO und die EU über die Kriegstreiberei Erdogans bislang teilnahmslos hinweggeschaut haben.
Sollte die armenische Gesellschaft unter der Last der letzten Entwicklungen nicht völlig zerbrechen, hätte die kleine Republik mit ihren rund drei Millionen Bürgerinnen und Bürgern Unterstützung aus dem Ausland bitternötig: Das Virus hielt Armenien schon vor dem Krieg fest in Griff – nach dem Krieg soll die Pandemie aber ein völlig unkontrolliertes, erschreckendes Ausmass angenommen haben. Was heute in Jerewan auf dem Spiel steht, ist nicht die Zukunft Paschinjans, sondern das Überleben der armenischen Demokratie. Die armenische Zivilgesellschaft bräuchte den Beistand europäischer Institutionen, Kirchen, Akademiker, um trotz der allumfassenden Verzweiflung weiterzumachen. Und vielleicht wäre die internationale Diplomatie diesmal gefragt, aus ihrem kolossalen Scheitern im Konflikt um Bergkarabach Lehren zu ziehen und für die offenen Fragen des Moskauer Dokuments, wie etwa den Status Berg-Karabachs, nach einer Lösung zu suchen, die Armeniern und Aserbaidschanern das Gefühl der Sicherheit und des Respekts verspricht.