Völkermord an Armeniern: Schweiz drückt sich um Klartext
Joe Biden wählte seine Worte mit Bedacht, als er als erster US-Präsident das Kriegsverbrechen an den Armeniern im untergehenden Osmanischen Reich als Völkermord anerkannte: Das amerikanische Volk gedenke all jener, die «beim Völkermord an den Armeniern in der osmanischen Ära ums Leben kamen», hiess es in der Mitteilung Bidens zum 106. Gedenktag an die Gräueltaten im Ersten Weltkrieg. Die USA fühlten sich verpflichtet zu verhindern, dass sich ähnliche Kriegsverbrechen jemals wieder ereigneten, erklärte Biden. Man ehre die Opfer des Völkermords, «damit die Schrecken des Geschehens niemals der Geschichte verloren gehen», so der US-Präsident.
Der Völkermord begann am 24. April 1915 mit der Verhaftung von armenischen Intellektuellen und Gemeindeleitern im damaligen Konstantinopel (heute Istanbul) durch die osmanischen Behörden. In den darauffolgenden Monaten wurden rund 1,5 Millionen Armenier deportiert, massakriert oder in einem Vernichtungsfeldzug in den Tod getrieben. Die überwältigende Mehrheit der Historiker bestreitet mittlerweile kaum noch, dass es sich bei diesem Verbrechen im Schatten des Ersten Weltkriegs um eine systematische Vernichtungspolitik der jungtürkischen Führung des Osmanischen Reichs handelte; dass ferner sein Ausmass und die Folgen nur mit jenen des Holocausts am jüdischen Volk vergleichbar seien. Doch im Gegensatz zum Holocaust haben es Regierungen – auch der Schweizer Bundesrat – bislang vermieden, das Verbrechen an den Armeniern ausdrücklich als Völkermord einzustufen. Der Widerstand der einflussreichen Türkei, der Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs, war bislang enorm.
Strikte Leugnungspolitik
Die Republik Türkei hat seit ihrer Gründung 1923 die «armenische Frage» zwanghaft und kollektiv verleugnet und verdrängt. Zunächst schrieb Republikgründer Kemal Atatürk seiner jungen Republik vor, dass es einen Massenmord an den Armeniern auf dem Territorium der Türkei nie gegeben habe, nie habe geben können. Und sämtliche türkischen Regierungen übernahmen diese Doktrin, ohne sie zu hinterfragen. Die «armenische Frage» galt über Jahrzehnte in der Türkei und auch in der Weltöffentlichkeit als «kein Thema». Es war erst der junge Staat Armenien, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 die verdrängten Geister aus der Vergangenheit wachrief und die Anerkennung des Kriegsverbrechens als Völkermord auf die Tagesordnung der Weltpolitik setzte.
Nach 1991 drohte die Türkei Ländern, die möglicherweise bereit waren, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, mit schweren wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen und einem Abbruch der Beziehungen. Türkische Regierungen gaben in den USA und der EU zudem riesige Geldsummen für Lobbyisten aus, um im Ausland einen solchen Schritt zu verhindern und verfolgten im Inland jede anderslautende Stimme. Eine Wende in dieser Politik des vom Staat verordneten eisernen Schweigens markierte um die Jahrtausendwende ausgerechnet der heutige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan. Erdoğan wollte zwar auch nichts von einem «Völkermord» wissen. Unter seiner Regierung wurde es aber möglich, dass 2005 beispielsweise armenische und türkische Wissenschaftler bei einer Konferenz in Istanbul erstmals über das Schicksal der Armenier im untergehenden Osmanischen Reich debattierten. Unter der Führung Erdoğans fanden ferner im April 2009 die von der Schweiz im Sinne einer aktiven Friedenspolitik vermittelten Gespräche zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien statt. Diese führten zur Unterzeichnung einer ganzen Reihe von Protokollen, die auf eine Normalisierung des schwierigen bilateralen Verhältnisses hinzielten (diese Annäherung scheiterte in der Folge am Widerstand nationalistischer Kreise in Armenien, in der Türkei und in Aserbaidschan).
Interessanterweise war es erneut Erdoğan, der diesem Tauwetter ein Ende setzte, als er nach dem misslungenen Putschversuch 2016 eine Allianz mit der rassistischen, rechts-nationalistischen MHP-Partei sowie dem links-nationalistischen Politiker Doğu Perincek einging. Die MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli und Doğu Perincek lehnen selbst die erdrückendsten historischen Beweise über die Vorkommnisse 1915–1918 als «Lüge der internationalen Imperialisten» ab. Beide Politiker bestimmen heute, so Kenner der Szene in Ankara, massgeblich die Aussenpolitik der Türkei. Als Extrem-Nationalisten haben beide im letzten Krieg um Berg-Karabach auf eine enge militärische Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und der Türkei gesetzt. Aufgrund ihres Einflusses ist die Türkei in jüngster Vergangenheit wieder umgeschwenkt zur strikten Leugnungspolitik in der Armenien-Frage.
Einflussverlust Ankaras in Washington
Entsprechend heftig fielen die verbalen Reaktionen in Ankara nach der Mitteilung aus dem Weissen Haus aus: Der türkische Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu verurteilte die Erklärung Bidens als «politischen Opportunismus»: «Wir brauchen uns von niemandem über unsere eigene Vergangenheit belehren zu lassen.» Der türkische Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun erklärte, die «historisch ungenauen Äusserungen des US-Präsidenten» seien für Ankara «null und nichtig». Nur eine einzige Partei, die linke pro-kurdische HDP, forderte das Land auf, sich seiner Geschichte zu stellen: «Der Völkermord an den Armeniern hat in diesen Ländern stattgefunden und seine Rechenschaft muss in diesen Ländern erfolgen», hiess es in der Erklärung der HDP. Diskriminierung und Hassverbrechen seien in der Türkei alltäglich geworden, weil «das grosse Verbrechen bislang ungesühnt blieb», unterstrich die Partei ferner. Die HDP hat auch in anderen Konflikten als einzige Partei der Türkei eine liberale Stellung eingenommen. Allerdings droht der Partei jetzt ein Verbot.
Ansonsten reagierte die gesamte übrige Opposition geschlossen gegen Bidens Anerkennung des Völkermords: Kemal Kiliçdaroğlu, Vorsitzender der von Kemal Atatürk gegründeten Republikanischen Volkspartei (CHP), bezeichnete die Entscheidung in Washington als «nicht richtig, unangebracht und ungerecht» und sprach von einem «irreparablen Schaden» für die strategischen Beziehungen zwischen der USA und der Türkei. Meral Aksener von der nationalistischen Mitte-Rechts-Partei (Iyip) sprach gar von einem «schweren Angriff auf die Ehre und Würde der türkischen Nation». Den Schaden in den geostrategischen Beziehungen sah auch sie als unvermeidlich.
Experten sind sich allerdings einig, dass Ankaras traditionelle Drohgebaren heute kaum mehr etwas erreichen können. Die US-Anerkennung des armenischen Genozids signalisiere unmissverständlich den Einflussverlust Ankaras auf Washington, schrieb dazu etwa die Analystin Kristina Jovanovski für die Nachrichtenagentur Media-Line. «Erdoğan erntet, was er gesät hat», kommentierte auch der amerikanische Beobachter Edward Stafford in der internet-Plattform «ahval». «Letztlich hat die Politik der Erdoğan-Regierung die Türkei in Washington isoliert», stellte der türkische Analytiker Aykan Erdemir fest. «Die Türkei hat am Ende keine Freunde mehr, die sich für Ankaras Position in Washington einsetzen.»
In der irrigen Annahme, die Türkei sei den Grossen der Welt ebenbürtig oder zumindest eine blockfreie Regionalmacht, übte Erdoğan besonders nach 2016 zunehmend eine skrupellose Machtpolitik aus. Im Alleingang liess er seine Armee mehrmals in Nachbarländern einmarschieren und suchte in Kriegsschauplätzen wie in Syrien und Libyen und dem östlichen Mittelmeer die Grossmächte USA und Russland unverhohlen gegeneinander auszuspielen. Der vorherige US-Präsident Donald Trump, den Erdoğan seinen «Busenfreund» nannte und mit dem er fast wöchentlich telefonierte, empfand den Potentaten in Ankara als «cool» und liess ihn gewähren. Das hat sich mit dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten aber geändert. Bezeichnenderweise mied Joe Biden nach seinem Amtsantritt 92 Tage jeden Telefonkontakt mit seinem türkischen Amtskollegen Erdoğan. Als er dann am 93. Tag endlich anrief, tat er das in erster Linie, um Ankara über seine Proklamation zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern vorzuwarnen. Biden versprach Erdoğan immerhin ein Treffen am Rande eines geplanten NATO-Gipfels nächsten Juni, um die bilateralen Beziehungen zu verbessern.
«Erdoğans Selbstvertrauen rührte aus der langjährigen Überzeugung vom unverzichtbaren geostrategischen Wert der Türkei», kommentierte Cengiz Candar, einer der bekanntesten türkischen Journalisten. Offensichtlich habe die Türkei heute aber «nicht mehr den unverzichtbaren geostrategischen Wert, den ihre politischen Entscheidungsträger zu glauben pflegten und den Rest der Welt so glauben liessen».
Erleichterung in Jerewan
In Armenien löste Bidens Proklamation Erleichterung aus: In Armeniens Hauptstadt Jerewan versammelten sich Menschenmengen vor dem Gebäude der US-Botschaft, um Joe Biden ihre Dankbarkeit für den «mächtigen Schritt auf dem Weg der historischen Gerechtigkeit» zu äussern. «Die Anerkennung des Völkermordes ist für die Republik Armenien eine Frage der Wahrheit, der historischen Gerechtigkeit und der Sicherheit, insbesondere im Lichte der Ereignisse, die im letzten Jahr in unserer Region stattgefunden haben», sagte auch Premierminister Nikol Paschinjan in einer Erklärung. Von einer «ersten Dosis der Freude, die nach den letzten pechschwarzen Monaten unser demoralisiertes und desorientiertes Volk bitter nötig hat», sprach die griechische Armenierin Araxi Axelian. Wie der Premier Nikol Paschinjan verband auch sie die Anerkennung des Völkermords vor 106 Jahren vor allem mit der Frage der Sicherheit der armenischen Republik von heute.
Viele Armenier, ob in der südkaukasischen Republik oder weltweit verstreut in der Diaspora lebend, haben den letzten Krieg um die umstrittene Region Berg-Karabach als Trauma erlebt: Im 44-tägigen bewaffneten Konflikt kamen allein auf armenischer Seite rund 3500 Soldaten ums Leben, weitere 11’000 Männer wurden zu Krüppeln – das ist ein allzu hoher Preis an Menschenleben für das kleine Land mit gerade mal 2,5 Millionen Einwohnern. Der Krieg, den Aserbaidschan dank türkischer Drohnen und Militärberater sowie von Ankara bezahlter syrischer Söldner gewonnen hat, bescherte Armenien eine demütigende Niederlage und hat diese ärmste Republik des Südkaukasus auch wirtschaftlich ruiniert. «Die vorherrschende Stimmung unter den Armeniern ist, dass die Türkei vor 100 Jahren uns ausrotten und uns vom Angesicht der Erde verschwinden lassen wollte», sagte Alin Ozinian, eine in Jerewan ansässige armenische Forscherin, die aus Istanbul stammt, der internet-Plattform «al-monitor». Und: «Heute wollen sie dasselbe tun, sie wollen uns alle töten».
Joe Biden versprach, er wolle verhindern, dass eine solche Gräueltat jemals wieder geschehe. Ob allein dieses Versprechen als Abschreckung genügt und damit die Sicherheit Armeniens garantieren kann, muss sich erweisen. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew droht Armenien mit einem neuen Krieg. Und die Schweiz? Vielleicht wäre es angebracht, dass auch der Bundesrat sich im Sinne einer aktiven Friedenspolitik nun zu einer offiziellen Anerkennung des Völkermordes durchringen würde.