Wahlen in Armenien: Wie stürzt man eine Regierung?
Gleich der erste, der zweite und der dritte Präsident der postsowjetischen Republik Armenien haben ihre Teilnahme an den auf den 20. Juni angesetzten, vorgezogenen Parlamentswahlen angekündigt. Die politische Ausrichtung und das Temperament der Kandidaten sind völlig verschieden, doch streben sie alle ein Ziel an, nämlich eine Wiederwahl des amtierenden Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan zu verhindern.
Besorgt um das Überleben der Republik
Von einer «dringenden Notwendigkeit», die Regierung Paschinjans zu stürzen, sprach als Erster Lewon Ter-Petrosjan. Der Sturz der Regierung sei «wahrscheinlich der einzige Weg, um neue Katastrophen zu vermeiden», unterstrich er in einer Erklärung. Und: «Es ist die Pflicht aller Armenier zu erkennen, dass die Fortsetzung von Paschinjans Regime viel gefährlicher für Armenien und Artsakh (Bergkarabach auf Armenisch) ist als selbst die möglichen oder vermeintlichen Bedrohungen, die von Aserbaidschan und der Türkei ausgehen».
Lewon Ter-Petrosjan ist im Allgemeinen nicht als Mann der starken Worte bekannt. Als leidenschaftlicher Sprachforscher ging er zeitlebens mit der Sprache behutsam um. Erst der Ausbruch des Karabach-Konflikts im Jahr 1988 hatte den scheuen Wissenschaftler aus der stillen Abgeschiedenheit der Sprachforschung an das politische Firmament seines Landes katapultiert: Eine Gruppe armenischer Intellektueller um Lewon Ter-Petrosjan, Ende der 1980er Jahre noch heisse Verfechter von Gorbatschows Reformen «Perestroika» und «Glasnost», sahen enttäuscht davon ab und führten Armenien friedlich in die Unabhängigkeit – noch vor dem offiziellen Zusammenbruch der Sowjetunion. Ter-Petrosjan wurde im September 1991 zum ersten Staatsoberhaupt der unabhängigen, postsowjetischen Republik ernannt.
Der mittlerweile 76-jährige Politiker ist in diesen Tagen ernsthaft um das Überleben «seiner» Republik besorgt. Nicht ohne Grund: Der Krieg um Bergkarabach im Herbst 2020 hat Armenien einen sehr hohen Zoll an Menschenleben gekostet und hat auch seine Verteidigung faktisch ruiniert. Während die Gesellschaft noch immer in einem Zustand der Schockstarre ist, scheint die Regierung unfähig, auch die dringendsten Probleme des Landes einigermassen anzugehen, wie etwa die medizinische Behandlung der rund 11’000 Kriegsinvaliden sicherzustellen oder die Not der Flüchtlinge zu lindern. Das Schreckgespenst einer neuen massiven Auswanderung, sollten Russland und andere Länder nach der Covid-Phase ihre Grenzen wieder öffnen, macht sich bemerkbar: Schon im Zuge des ersten Karabach-Kriegs 1991, den damals wie auch im letzten Herbst Aserbaidschan begonnen hatte, wanderten rund 1 Million Personen aus, allen voran die Wissenschaftler und die Jugend. Die Bevölkerung des Landes schrumpfte von 3,5 auf 2,5 Millionen. Eine ähnliche Migrationswelle könnte diesmal für die Republik buchstäblich fatal sein.
Diese Sorgen liessen Lewon Ter-Petrosjan wohl über seinen Schatten springen und den Kontakt zu seinem Nachfolger im Amt, Robert Kotscharjan, suchen. Der gebürtige Karabach-Armenier stand im Ruf, ein ruchloser Machtpolitiker zu sein, bereits als er Mitte der 1990er aus Karabach nach Armenien zog. Als Ter-Petrosjan 1998 seine Bereitschaft signalisierte, in der Karabach-Frage Kompromisse einzugehen, zögerte Kotscharjan tatsächlich keinen Moment, um das Staatsoberhaupt mit einem politischen Coup zu stürzen.
Kotscharjan liess sich zum zweiten Staatsoberhaupt Armeniens ernennen. Und mit ihm setzte in Jerewan die Herrschaft der sogenannten mächtigen Herren aus Bergkarabach ein, die mit dem ebenfalls Karabach-gebürtigen Sersch Sargsjan genau zwanzig Jahre lang hielt. Sie war aussenpolitisch von einer engen strategischen Zusammenarbeit mit Russland und wirtschaftlich von einer ebenso engen Verflechtung zwischen Politik und Oligarchie gekennzeichnet. In der Karabach-Frage lehnten die Karabacher jeden Kompromiss ab, der nicht von vornherein die Unabhängigkeit ihres Ministaats vorsah.
Trotz aller Verbitterung aus alten Tagen schlug Lewon Ter-Petrosjan nun Kotscharjan und Sargjan die Bildung einer gemeinsamen Wahlallianz vor. Nur eine solche Allianz könne eine Wahlniederlage Nikol Paschinjans garantieren, flehte er sie an. Ein neuer Wahlsieg des Premiers würde hingegen «die innere Instabilität fortsetzen und das Tempo der Auswanderung beschleunigen». Seine Gesprächspartner teilen die Sorgen Ter-Petrosjans – wie ein Grossteil der Bevölkerung die Sorge ums Überleben der unabhängigen Republik teilt. Die drei Ex-Präsidenten bezichtigen Premier Nikol Paschinjan, mit seinem Aufruf nach «mehr Unabhängigkeit von Russland» 2018 die Gunst Moskaus allzu leichtsinnig verspielt zu haben. Die schwere Niederlage Armeniens im Bergkarabach-Krieg sei aus ihrer Sicht lediglich der Preis dafür.
Die Appelle Ter-Petrosjan blieben ohne Erfolg. Die Bildung einer gemeinsamen Wahlallianz lehnte Kotscharjan strikt ab. Noch hofft er offenbar, dass seine enge Freundschaft mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ihm wenn nicht gleich am 20. Juni, dann bald zu einem alleinigen Wahlsieg verhelfen werde. Beobachter gehen davon aus, dass der Wahlkampf diesmal tatsächlich zwischen Kotscharjan und dem Premier Nikol Paschinjan ausgetragen wird.
Revolution und Katastrophe
Paschinjans Versprechen einer Zukunft mit Rechtsstaatlichkeit, mehr Demokratie, weniger Korruption und weniger Abhängigkeit von Russland beflügelte im Jahr 2018 die Träume der Armenier und löste bahnbrechende politische Umwälzungen aus, die als die sogenannte «samtene Revolution» in die Geschichte eingingen.
Paschinjan ist sich bewusst, dass er für sein Volk nicht mehr der Held der Revolution, sondern das Gesicht der nationalen Niederlage ist. 45 Tage nach Kriegsausbruch musste er in Moskau einen Waffenstillstand unterzeichnen, der einer demütigenden Kapitulation gleichkam. Nikol Paschinjan weiss aber auch, dass keiner seiner Rivalen über ein glaubwürdiges Programm verfügt, wie die beängstigenden Probleme des Landes angegangen werden sollten – es sei denn durch eine noch engere Abhängigkeit von Russland. Das fordert aber mittlerweile auch er. Und er ist sich schliesslich bewusst, dass ein Grossteil der Gesellschaft die Ära der alten korrupten Herrscher und Oligarchen verabscheut. Das dürfte der Grund sein, dass er gemäss den letzten Umfragen noch mit Abstand in Führung liegt.
Ein Novum
Es gibt ein Novum bei diesen Wahlen: Vier armenische Geschäftsleute aus der Diaspora, namentlich Richard Azarnia (aus Frankreich), Artur Alaverdyan (aus Armenien), Noubar Afeyan (aus den USA) und Ruben Vardanyan (aus Russland) haben vor kurzem die «Future Armenian Initiative» ins Leben gerufen und fordern ihre bedrängte Nation zum Umdenken auf. «Statt Kirchen einen Garnisons-Staat», so lautet der erklärte Wunsch der Initiative.
Die Initiative plädiert für eine Restrukturierung der armenischen Streitkräfte und für eine Ausrüstung mit modernen Waffen aus der ganzen Welt. Die russischen Waffen, über die Armenien verfügt, hätten im letzten Karabach-Krieg gegen die modernen Drohnen nichts anrichten können, lautet ihr Argument. Ihre zweite Forderung betrifft die Förderung von Bildung, Wissenschaft und Technologie. Nur dadurch könne Armenien in den nächsten fünf Jahren 150’000 bis 200’000 Armenier zur Rückkehr in die Heimat bewegen. Und nur auf diese Weise könne das demographische Problem des Landes gelöst und der in seiner Existenz bedrohte Staat gerettet werden, lautet ihr Fazit. Aussenpolitisch wünscht sich die Initiative einen Ausbau von strategischen Partnerschaften mit regionalen sowie globalen Mächten und eine Reduktion der Abhängigkeit von Russland.
Es ist das erste Mal seit der Unabhängigkeit der Republik, dass die Diaspora-Armenier in den innenpolitischen Angelegenheiten ihrer kleinen Republik im Südkaukasus so massiv intervenieren. Es ist das erste Mal auch, dass sich die Diaspora diesmal bereit zeigt, tief in die Tasche zu greifen, um die Restrukturierung des Staates zu ermöglichen. Zum Vergleich: Die Bevölkerung Armeniens zählt heute rund 2,5 Millionen. Auf mindestens zwei Mal so viel wird hingegen die in der ganzen Welt verstreute Diaspora geschätzt.
Neue Krise zwischen Armenien und Aserbaidschan
Letzten Dienstag kam in der armenischen Provinz Gegharkunik ein armenischer Soldat ums Leben, bei einem Vorstoss aserbaidschanischer Truppen, sagt die armenische Regierung in Jerewan, bei einem Unfall, behauptet die Regierung Aserbaidschans in Baku. Einen Tag später meldete Jerewan die Gefangennahme von sechs armenischen Soldaten, die wiederum laut Baku die Grenze seines Territoriums überquert hatten, um Minen zu legen. Bereits am 20. Mai waren bei einem Vorstoss aserbaidschanischer Truppen in der armenischen Provinz Syunik elf armenische Soldaten verletzt worden – die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan sind so hoch wie seit dem Krieg in Bergkarabach letztes Jahr nicht mehr.
In dieser Krise geht es um die neue gemeinsame Grenze, die sich nach dem Krieg um Bergkarabach ergeben hat. Sie setzte am 12. Mai ein, als rund 250 aserbaidschanische Soldaten erstmals in der Schwarzsee-Region bei Syunik im Süden Armeniens ein Gebiet bis zu 3,5 Kilometer tief im armenischen Territorium unter ihre Kontrolle gebracht haben. Seither werden Zwischenfälle aus einem viel breiteren Gebiet gemeldet, das mittlerweile zwischen der Provinz Syunik im Süden Armeniens bis zur Provinz Gegharkunik im Osten des Landes reicht. «Aserbaidschan folgt der Logik des Siegers, der nimmt, was er nehmen kann. Und es hat strategische Höhen in allen drei Bezirken – Syunik, Gegharkunik und Tawusch – erobert», schrieb der armenische Militärexperte Robert Nasaryan. Bei jedem Zwischenfall wiederholen sich dabei Szenen, die man aus dem Krieg vom letzten Jahr kennt: Kinder, Frauen und Greise müssen in Panik fliehen, ihre Lebensgrundlage wird zerstört. Die Bevölkerung fühlt sich auch in der Hauptstadt Jerewan belagert.
Aserbaidschan leugnet den Vorstoss seiner Armee nicht. Wie Präsident Ilham Alijew immer wieder erklärt, handle es sich aber um keinen Konflikt, die Armenier würden sich umsonst beschweren. «Aserbaidschan stellt nur seine international anerkannten Grenzen wieder her», behauptet auch die Sprecherin des aserbaidschanischen Aussenministeriums (MFA) Leyla Abdullayeva, wohl wissend, dass es sich zumindest um eine «Halb-Lüge» handelt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gibt es nämlich für dieses Gebiet weder eine von allen betroffenen Seiten akzeptierte Grenzlinie noch von allen akzeptierte geographische Karten. Zu Zeiten der Sowjetunion hatte sich niemand jemals damit befasst.
Sich nach eigenem Gutdünken Grenzgebiete anzueignen, kommt in der internationalen Diplomatie aber einer Grenzverletzung gleich. Von einer Invasion sprach der französische Präsident Emmanuel Macron. Er forderte Aserbaidschan auf, seine Truppen bedingungslos aus Armenien abzuziehen. Die USA bezeichneten am Freitag Militärbewegungen entlang der nicht demarkierten Gebiete der internationalen Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan als «provokativ und unnötig». Washington rief Baku auf, alle Kriegsgefangenen und andere Gefangene unverzüglich freizulassen und seine Truppen zurückzuziehen auf Positionen, die es beim Waffenstillstand vom letzten November innehatte. Die sofortige Freilassung aller Kriegsgefangener und Inhaftierten forderten schliesslich auch die Ko-Präsidenten der Minsker Gruppe, die von der OSZE mit der friedlichen Lösung des Karabach-Konflikts beauftragt worden ist. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt zur Lösung von Grenzstreitigkeiten nannten auch sie unakzeptabel.
Ob und wie Aserbaidschan sich zu einem Abzug seiner Truppen aus armenischem Territorien bewegen lässt, ist vorerst nicht abzusehen. Das lange Schweigen Moskaus bewegt hingegen schon lange die Gemüter in Armenien: Bereits am 14. Mai beantragte Armenien militärische Hilfe bei der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), dem Bündnis unter Führung Russlands, das ähnlich wie die NATO zur Verteidigung seiner Mitglieder gegen militärische Angriffe verpflichtet ist. Moskau hat sich bislang aber zurückgehalten und hat die Vorstösse der aserbaidschanischen Truppen in armenischen Territorien nie verurteilt. Der russische Aussenminister Lawrow bot lediglich seine Vermittlung bei der Grenzdemarkierung an. Die Gewissheit, von Moskau nach dem Krieg auf Bergkarabach zum zweiten Mal schutzlos gelassen worden zu sein, wiegt schwer. Eine Umfrage ergab, dass nur noch ein Drittel der Armenier der Meinung sind, ihr Land könnte sich bei schwierigen Situationen auf Russland verlassen. Der Anteil der Armenier, die Russland für ihren wichtigsten geostrategischen Partner halten, lag letzten September bei fast 70 Prozent.